Auftanken.
Manchmal, wenn der Tank leer ist, dann muss man ihn mal wieder volltanken.
Bei mir hilft der Diesel nicht beim Volltanken. Mir hilft nur eins. Norddeutschland.
Es regnet. Es ist grau. Es ist stürmisch. Es ist Totensonntag.
Die Luft ist raus. Die letzten Wochen waren stressig. Die Zeit hinterm Steuer war wieder einmal meine einzige Freizeit. Diese Woche bin ich alleine zweitausend Kilometer gefahren. 1500 in meinem roten Golf Diesel, 500 in dem Passat meiner Eltern. Viel geschlafen habe ich nicht. Eine Nacht waren es mal fünfeinhalb Stunden. Ich fühlte mich schon fast ausgeschlafen danach. Nun ist aber die Luft raus. Ich fühle mich platt. Ich brauche mal eine andere Luft. Ich muss auftanken.
Ich ziehe mir meine Schuhe und meine Jacke an und suche nach meinem Autoschlüssel. Wie jedes Mal, wenn ich losfahre möchte. Normalerweise lege ich alle Autoschlüssel immer an einen Platz. Da liegen auch welche. Nur nicht der meines Volvos. Es ist ja schon komisch. Ich verbringe am Tag mehr Zeit hinter dem Steuer als schlafend im Bett. Und was mache ich, wenn ich mal eine Stunde für mich habe? Ich setze mich ins Auto und fahre irgendwo hin. Menschen treffen. Oder durch die Gegend laufen. Fotografieren. Oder einfach an die Nordsee. Nordseeluft schnuppern und das Watt beobachten. Die Stille genießen. Ich brauche ein Kontrastprogramm zu Vorlesungen, Stadtverkehr, Autobahn und Lernen. Eine Auszeit. Ich finde den Schlüssel meines Autos im Schlafzimmer. Warum auch immer. Es steht ja nicht mal mehr ein Bett dadrin.
Ich schließe die alte, schwere Haustür und gehe mit einem Strauß Rosen in der Hand in Richtung meines Autos. Totensonntag. Der erste Kirchgang, an den ich mich bewusst erinnern kann, war Totensonntag. Ich glaube, ich war vier Jahre alt. Ich weiß noch, dass mir gesagt wurde, dass ich ja nichts sage dürfte. Ich kann mich noch an viele Menschen erinnern. Ich saß neben meiner Oma. Und an eine riesighohe Decke. Mein Opa starb in dem Jahr. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sein Name aufgerufen wurde. Ich erinnere mich eh noch gut an ihn.
Ich schließe meinen Volvo auf, der seit einer Woche neben dem Moped treu darauf wartet, wieder einmal gefahren zu werden. Er steht ja fast nur noch. Eigentlich habe ich das Auto ja meiner Mutter vermacht. Aber sie benutzt den Wagen ja kaum. Einmal im Monat fährt sie 80 Kilometer. Viel zu wenig. Also opfere ich manchmal ein wenig Spritgeld und bewege meinen „Lieblingsneuwagen“ ein Stück. Eigentlich wäre es logisch, den Wagen zu verkaufen. Aber ich mag nicht logisch sein. Ich habe schon viel mit dem Auto erlebt. Es hat auch praktisch einen Marktwert mehr. Und überhaupt. Falls ein Auto mal kaputt geht, ist ein Ersatzauto immer praktisch. Ich stecke den Schlüssel ins Zündschloss, drehe und der Motor erwacht schnurrend. Der Elch erinnert mich tickernd daran, dass ich mich anschnallen sollte. Sicherheit geht vor.
Ich lege den Rückwärtsgang ein und rolle los. Irgendwie ist 2016 ein richtig komisches Jahr. Es gibt ja Leute, die meinen, dass so ein Jahreswechsel nichts mit Glück oder Pech zu tun hat. Einige meinen sogar, dass es nicht einmal Glück oder Pech gibt. Als Student einer Naturwissenschaft würde ich dem ja gerne zu stimmen. Viele Ereignisse seit dem Jahreswechsel lassen mich aber zweifeln. Die Bremsen rubbeln noch leicht flugrostig beim Anhalten. Aber nur die ersten zwei, drei Bremsungen. Dann ist wieder fast komplette Stille im Innenraum. Nur das Radio dudelt ein komisches Lied heraus. Ich höre nicht wirklich zu.
Leise kommt der niederländische Kombi am Straßenrand zum Halt. Ich steige aus, nehme die Rosen und gehe die drei Stufen hoch zum Friedhof. Es ist wirklich ein komisches Jahr. Die Regentropfen perlen von meiner Jacke ab. Der Wind lässt meine Haare noch mehr durcheinanderwirbeln, als sie es eigentlich schon sind. Ich halte die Rosen schützend unter meiner Jacke. Sie sollen keine Blüten verlieren. Das wäre schade. Der Kies unter meinen Schuhe knirscht nicht wie sonst. Die Bäume rauschen mit ihren blätterlosen Ästen und lassen den strammen Nordseewind irgendwie schreien. Eine Gieskanne rennt vor mir vom Wind getrieben den Weg entlang. Ich laufe hinterher und fange sie ein. Ich nehme sie mit zum nächsten Wasserhahn, lasse ein wenig Wasser hinein und hänge sie auf.
Ich komme am Grab an. Es ist keiner in der Gegend. Und selbst wenn. Ich komme mir nicht komisch vor, wenn ich rede. Irgendwo hört mir wohl jemand zu. Ich stelle die Vase mit Wasser auf und stelle die Rosen hinein. Sie stehen vor dem Wind geschützt. Ich höre nichts, außer das Rauschen der Trauerweiden. Es ist ein komisches Jahr. Und es ist kalt. Ich verabschiede mich. Ich möchte noch nach Husum.
Ich fahre über die Landstraßen Dithmarschens und Nordfrieslands. Ab und zu rüttelt mal eine kleine Windböe an meinem Kombi. Ich genieße die leeren Straßen, die Landschaft und den kleinen Volvo Kombi. Ich fahre gerne Auto. Andere Leute schauen sich zur Entspannung gerne Katzenvideos an. Oder trinken ein Glas Wein. Oder liegen lesend im Bett. Ich fahre gerne. Im Sommer gerne mit Elsa oder dem Cabrio. Aber die sind beide im Winterschlaf. Meinen V40 fahre ich aber ebenso gerne. Jedes Mitglied des Fuhrparks fährt sich anders. Bei Elsa muss ich noch richtig fahren. Ohne Servolenkung, mit Zwischengas beim Schalten. Das Cabrio fährt sich schon „moderner“, ist aber wohl das Sportlichste von allen. Und man kann das Dach wegklappen. Der V40 ist das kleine „Luxusauto“ und wirklich komfortabel. Mein Pendeldiesel ist ein richtiges Arbeitstier. Robust und sparsam. Ich mag Technik extrem. Ich mag wissen, wie sie funktioniert. Ich mag sie reparieren, ich mag sie bedienen. Das ist mein Hobby.
Komfortabel und gemütlich gleite ich durch das stürmische Nordfriesland. Husum habe ich mir als Ziel gesetzt. Husum ist die Hauptstadt von Nordfriesland. Theodor Storm kam daher. Ähnliches Wetter wie heute hat wohl auch Hauke Haien miterlebt. Eine Unwetterwarnung wird im Radio vorgelesen. Ich bin mir sicher, dass die Deiche halten. Es haben mich schon erstaunlich viele Leute gefragt, ob ich nicht Angst habe, so dicht am Wasser zu wohnen. Warum genau, ist mir noch nicht so ganz klar geworden. Vor der Natur habe ich keine Angst, sondern Respekt. Ich habe im Wald auch keine Angst von einem Ast erschlagen zu werden. Warum sollte ich dann Angst haben, dass die Nordsee über die Deiche tritt? Ich glaube, eine Chemiefabrik vor der Haustür würde mich stören. Aber doch nicht die Nordsee.
Husum wird oft mit dem Gedicht „Die Stadt“ von Theodor Storm in Verbindung gebracht. „Am grauen Strand, am grauen Meer. Und seitab liegt die Stadt“ heißt es dort. Oft wird Husum als „graue Stadt am Meer“ bezeichnet. Dabei ist Husum gar nicht so grau. Es ist ein wunderhübsches, kleines Städtchen. Mit einer schönen Altstadt, vielen kleinen Geschäften und einem schönen, kleinen Hafen. Im Nordseemuseum und auch im Schifffahrtsmuseum kann man einiges über die Geschichte Husums erfahren. Ich werde ein anderes Mal darüber erzählen. Ich parke meinen Volvo auf dem letzten freien Parkplatz am Hafen und mache mich zu Fuß auf den Weg. Ich möchte einfach mal durch die leeren Straßen Husums laufen. Frische Luft schnappen.
Ganz leer sind die Straße nicht. Ungemütlich ist es trotzdem. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke bis oben hin zu und stecke meine Hände in die Taschen. In den Gassen von Husum nimmt der Wind ab. Die meisten Geschäfte haben geschlossen. Es kommt sogar ein bisschen die Sonne heraus. In Husum habe ich schon einige lustige Sachen erlebt. Ich war vor ein paar Jahren mal auf einem Weihnachtsmarkt hier. Da kam ein kleiner Junge an, zog an meinem Ärmel und sagte lächelnd: „Du nicht Weihnachtsmann!“ Ich muss fast wieder ein bisschen lachen, als ich daran denke. Ich tu es nicht, damit die anderen Leute mich nicht noch komischer angucken als sonst schon. Das Kopfsteinpflaster unter meine Füßen ist gar nicht ruschtig. Die Schaufenster stehen voll mit Ideen für Weihnachtsgeschenke. Ich hoffe, dass die am 23. Dezember auch noch dort stehen. Vielleicht sollte ich aber auch einfach vorher Husum mal wieder besuchen.
Die großen Gebäude erzählen Geschichte. Irgendwo, eine Ecke weiter in Richtung Norden, steht das „Schloss vor Husum“. Soweit es mir bekannt ist, dürfte es das einzige Schloss an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins sein. Das Schloss habe ich vor einigen Jahre einmal besucht. Ich weiß gar nicht genau, was man dort machen kann. Bestimmt ist dort auch ein Museum drin. Ich muss da auch mal wieder hin. Vor ein paar Jahren lief ich Hand in Hand mit einer Husumerin auch durch diese Straßen und sog jedes Wort auf, dass sie gesprochen hat. Menschen ändern sich. Nur der Volvo ist geblieben. Auch Husum hat sich nicht viel geändert. Ich laufe alleine durch die Straßen und schaue auf Speisekarten und in Schaufenster.
Onlineshopping ist nicht so mein Ding. Eigentlich ist nicht einmal Shoppen mein Ding. Aber ich schaue lieber in Schaufenster (gerade zur Weihnachtszeit) und probiere Sachen an, bevor ich Geld dafür ausgebe. Da zahle ich auch lieber ein paar Euro mehr und unterstütze damit die Geschäfte. Ich laufe vor lauter Träumerei gegen einen Zigarettenautomaten. Es hat keiner gesehen.
Mit jedem Schritt wird der Kopf klarer. Ich merke, wie es mir besser geht. Norddeutschland ist für mich Heimat. Ich mag das Landleben. Und die Nordsee. Oft wird die Landbevölkerung ja als zurückgeblieben angesehen. Als doof. Als Leute, bei denen man nur mit Alkohol ankommt. Als wortkarg. Als humorlos. So sehe ich das nicht. Die Leute sind oft viel eher auf dem Boden geblieben. Sehen Menschen fast alle gleich an. Wissen, was sich gehört und was nicht. Und sitzen abends meist nicht depressiv in ihrer 0815-Wohnung in irgendeinem Plattenbau in irgendeiner Seitenstraße einer großen Stadt, sondern genießen auch einmal den Feierabend mit anderen Leuten. Mit Freunden. Es ist alles viel persönlicher. Menschlicher.
Die Buden des Weihnachtsmarkts sind schon aufgebaut. Es ist aber kein Mensch zu sehen. „Du nicht Weihnachtsmann.“ Es leuchten schon die Lichterketten an einigen Tannenbäumen, die Buden warten auch nur noch auf die Eröffnung. Es riecht noch nicht nach gebrannten Mandeln. Es sind noch keine Menschen mit Glühweinfahne an den Stehtischen der Buden. Es sind noch nicht einmal Stehtische da. Nur ein paar Leute haben sich in den Gängen des Weihnachtsmarkts verlaufen. Ob sie sich wohl schon auf Weihnachten freuen? Ich weiß es nicht. Ich tu es nicht wirklich. Ist ja auch noch viel zu früh, um daran zu denken. Ich lasse die Buden stehen und laufe weiter. Wie schnell so ein Ding wohl aufgebaut ist? Einige haben Räder, aber nicht alle.
Räder habe ich auch nicht. Dafür Füße. Zwei an der Zahl. Die tragen mich weiter durch die fastleeren Straßen Husums. Ich komme an einer Bücherhandlung vorbei. Ich schaue in das Schaufenster und sehe… ein Buch über alte Maschinen. Komisch. Alte Technik verfolgt mich immer. Ich habe neulich drei alte Handbücher geschenkt bekommen. Eines zu einem Eicher-Trecker, eines zu einem Skoda 100 und eines zu stationären Dieselmotor. Ich besitze nichts davon, aber ich freue mich trotzdem. Mich interessiert, wie die Dinger funktionieren, wie sie gewartet und bedient werden. Ein bisschen freakig? Ja, vielleicht. Aber andere Leute sitzen an einem Computer und schießen virtuelle Schnauzbartträger ab. Das kommt mir wesentlich komischer vor. Aber egal. Hobby ist Hobby.
Ich schaue in das Schaufenster eines Elektronikladens. Überall sehe ich teure, viereckige Dinge (mit abgerundeten Ecken) und nur einem Knopf. Ich besitze kein Smartphone, sondern seit zehn Jahre mein altes Nokia mit Tasten. Das hat neu 50€ gekostet und es funktioniert noch immer. Sogar der Akku ist noch die Erstausrüstung. Und hält trotzdem zwei Wochen. Manchmal verstehe ich nicht, warum Leute extrem viel Geld für ein neues Handy ausgeben… und es dann nicht funktioniert. Oder man es jeden Abend neu aufladen muss.
Ich komme wieder am Hafen an. Es riecht nach…, ja, nach was eigentlich? Es riecht nicht nach Abgase. Es riecht aber auch nicht wirklich wie der Büsumer Hafen. Dort riecht es nach Fisch, nach Wasser und nach Arbeit. Nach den Abgasen eines Dieselmotors, nach dem Flexen an einem Krabbenkutter auf der Werft. Hier riecht es irgendwie anders. Die Luft ist frisch, der Wind kommt kaum durch die Gassen. Es riecht nach leckeren Gerichten, nach frischem Brot. Vielleicht auch ein bisschen nach Fischbrötchen. Ich bekomme Hunger. Ein Fischbrötchen wäre genau das richtige. Ich lasse es aber sein. Die Straßenbeleuchtung geht an, die Schaufenster sind immer noch beleuchtet. Ich laufe noch ein Stückchen am Wasser entlang. Ein altes, niederländisches Plattbodenschiff liegt am Hafen an. Ich erinnere mich an einen Segeltörn vor 2 Jahren, der extrem viel Spaß gemacht hat. Bis nach Dänemark. Das hat Spaß gebracht. Sonderborg habe ich seitdem wieder ein paar Mal besucht.
Ich bleibe noch einen Augenblick stehen. Nicht in Sonderborg, sondern in Husum. Der Wind weht an dieser Stelle ein bisschen stärker, auch der Regen hat wieder angefangen. Meine Brille wird langsam nass, viel sehen kann ich nicht mehr. Ich fühle mich entspannt wie nach einem ganzen Tag schlafen. Ich atme tief ein und freue mich. Meinen Schultern fühlen sich ganz leicht an. Ich atme tief ein und bekomme eine Mischung aus Nordseeluft und Fischbrötchen in die Nase. Die bunten Häuser sind immer noch beleuchtet, die Straßen sind leerer. Ich höre nichts außer das Nageln des alten Mercedes Diesel, der gerade an mir vorbei fährt. Ich fühle mich ausgeschlafen, wach und motiviert. Ich fühle mich gesund, fit und bereit für eine neue Woche. Danke, Norddeutschland. Danke, Husum. Ich mag die Ruhe hier. Ich setze mich in meinen Volvo, starte den Motor und rolle langsam über das Kopfsteinpflaster in Richtung Heimat.
Und das beste? Ich kann es jeden Tag erleben.
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