Kurze Auszeit.
Kurze, schlaflose Nächte, randvoller Terminkalender. Ihr kennt das ja bestimmt.Aber – man muss sich auch mal Auszeiten gönnen. Hab ich auch. Mit einem alten Auto.
Mein Kopf dröhnt. Die Graphen, Zahlen und Buchstaben verschwimmen so langsam vor meinen Augen. Ich wünschte, ich würde irgendwo ein einfaches phytagoreisches Tripel wiederfinden. Aber nichts ist. Mein Magen knurrt. Und ich brauche frische Luft. Dringend. Ich lasse meinen Schreibtisch stehen. Mir ist etwas schwindelig beim Aufstehen. Und irgendwie ist mir warm. Ich öffne das Fenster. Die Vögel zwitschern. Die Blätter der alten Obstbäume vor meinem Fenster rascheln freundlich einladend. Die Sonne scheint. Soll ich? Ich schaue kurz erst auf meinen Schreibtisch und dann auf die Uhr. Ich habe eigentlich keine Zeit. Egal. Ich brauche etwas zu essen. Und eine Pause.
An meinen Schuhen klebt noch trockene Schafsscheiße vom letzten Ausflug zum Deich. Er fällt auf die Fliesen, als ich mir die Schuhe anziehe. Ich muss dringend einmal Durchwischen. Nachher. Ich schnappe mir den Autoschlüssel und gehe zur Haustür. Ich komme mir vor wie einer dieser Menschen, die nie ihr Haus verlassen, als ich das hakelige Schloss aufschließe. Solche Leute gibt es. Die gehen wirklich nie raus. Außer, sie müssen es. Zum Einkaufen oder so. Das Pfand mal wegbringen. Die stehen dann meistens im fleckigen Jogginganzug etwas streng riechend mit je drei gelben Säcken voller Pfandflaschen in jeder Hand (Ich hab das mal versucht, wie halten die Leute die bitte fest? Das müssen sie jahrelang trainiert haben…) und blockieren den Pfandautomaten für einen kompletten Nachmittag.
Die Sonne wärmt mir den Nacken, als ich am Drehknopf drehe und das Garagentor öffne. Eine Schwalbe sitzt auf dem Dach der Garage und zwitschert ihr Lied. Ich muss lachen. Es ist zwar manchmal auf dem Land echt zum Kotzen idyllisch, aber besser als graue Plattenbauten und abgasverpestete Luft. Ich bin gerne Landei. Ich schließe Henkelmännchens Fahrertür auf. Freudig quietschend öffnet sie. Ich habe lange nichts mehr über den kleinen, alten VW mit dem roten Dach berichtet. Das heißt aber nicht, dass der Wagen sich die Räder eckig gestanden hat. Im Gegenteil. Diese Saison hat er schon mehr Kilometer gesammelt als Elsa. Dementsprechend dreckig sieht er momentan auch aus. Ich muss mal das Pflegeprogramm loslassen, wenn ich Zeit dafür habe.
Einmal das Gaspedal durchtreten und starten. Irgendetwas stimmt mit der Startautomatik nicht. Ich muss da mal nach sehen, wenn ich Zeit dafür habe. Sie scheint nicht immer zu funktionieren. Heute schon. Henkelmännchen startet und läuft gleichmäßig unrund. Immerhin geht er nicht aus. Ich lege den Rückwärtsgang ein und rolle erst aus der Garage und dann los. In Richtung Supermarkt.
Ich setze den Blinker und schalte in den zweiten Gang zurück. Ich bin extra umgedreht, um diesen kleinen Schotterweg zu erforschen. Ich dachte immer, ich kenne jeden einzelnen Weg im Speicherkoog. Aber anscheinend doch nicht. Ich muss schon hunderte Male dran vorbeigefahren sein und habe ihn nie wahrgenommen. Henkelmännchen hüpft freudig klappernd von Schlagloch zu Schlagloch. Ich schaue auf mein Mittagessen auf dem Beifahrersitz. Es liegt dort noch relativ ruhig. Zum Glück. Ich habe nicht wirklich Lust mit der Gabel auf der Fußmatte herumzupieksen und knirschend dreckigen Sand aus der selbigen mit den Zähnen zu zerkleinern. Urgs. Ob ich hier überhaupt fahren darf? Keine Ahnung. Ich glaube, ein Schild stand da nicht.
Die Scheibe klappert, als ich die Fahrertür schließe. Ich hätte alles am Ende des holprigen Schotterweges erwartet. Eine illegale Mülldeponie. Ein Drogenumschlagplatz. Ein Platz für Wildcamper. Aber nicht so einen schönen Ort. In weiter Ferne kreischt eine Möwe. Der Wind lässt die Blätter der Bäume und Büsche rascheln. Das Wasser plätschert leise vor sich hin. Ich schaue mich um. Es ist kein Mensch weit und breit zu sehen. Der perfekte Ort um abzuschalten. Und um das Essen einzunehmen. Mein Magen knurrt inzwischen lauter als eine Möwe kreischen kann. Ich stapfe auf die Bank zu. Das Gras ist noch relativ frisch gemäht. Der Mülleimer in der Nähe quillt über. Ob heute wohl schon Leute hier waren? Kann gut sein. Ich hoffe nur, dass niemand kommt, solange ich hier essen möchte. Ich nehme meine Plastikgabel (Ich Umweltsünder!) und piekse in meinen Salat. Ich muss nicht auf meine Linie achten (Ich bin ja schon eine), aber auf die Finanzen. Ich gnubsche den Salat in mich hinein und schaue auf das Wasser.
Seit über einem Jahr setze ich mich freiwillig fast jeden Tag in mein Auto und fahre freiwillig von Dithmarschen nach Hamburg und zurück. Alleine so kommen fast 1300 Kilometer in der Woche zusammen. Gerade in den hellen Jahreszeiten fällt es mir schwer, weil ich dann merke, dass ich jeden Tag drei bis vier Stunden meines Leben auf der A23 verschwende. Im Winter ist es nicht so schlimm. Da ist das Wetter draußen ja eh meist Mist. Aber im Sommer… Ich gehöre auch zu den Leuten, die manchmal mit einhundertundachtzig Kilometern pro Stunde über die Autobahn heizen, um noch zum nächsten Termin zu kommen. Stress und Druck. Langweilig wird mir eigentlich nie. Gesund ist Stress ja nicht gerade. Sandmann hat in seinem Artikel: „Aller guten Dinge“ schon mal darüber geschrieben, wie beruhigend ein altes Auto wirken kann. Und er hat recht. Ich kann mit einem alten Auto wunderbar meine Batterien aufladen. Wenn ich abends gestresst, müde und kaputt nach Hause komme und wirklich überhaupt keine Lust mehr auf irgendetwas habe, dann nehme ich mir einen Zündschlüssel, setze mich wieder in ein Auto und fahre an die Nordsee. Um dort die Beine zu vertreten, die Ruhe zu genießen oder um die Nordsee anzumeckern. Irgendwie muss man seinen Frust ja loswerden.
Sitz ich am Steuer eines Oldtimers, dann habe ich Zeit. Dann habe ich Urlaub. Ich spüre die Mechanik arbeiten. Ich lege einen Gang vielleicht auch mal mit Zwischengas ein. Ich drehe am Lenkrad und merke keine Servo arbeiten. Vielleicht piekst auch schon mal eine Feder des Sitzes in den Rücken oder der Motor stottert einmal kurz, obwohl der Vergaser eigentlich richtig eingestellt ist. Die Bremsen sind vielleicht auch nicht so gut wie die eines modernen Wagens. Alte Autos haben Charakter. Zum Glück. Sie haben gelebt und haben Leute bewegt. Und sie fahren sich alle verschieden – so lange sie nicht von Grund auf restauriert wurden und wirklich alles neu gekommen ist. Aber das passiert wohl nicht so schnell bei einem Golf 1 Cabriolet von 1980. Eher bei einer Pagode. Oder einem VW T1. Da fahren sich die meisten wohl gleich.
Ich atme tief ein. Die Nordsee ist nicht weit. Man riecht die salzige Meerluft und man hört die Möwen kreischen. Eigentlich muss man gar nicht weit weg fahren, um wirklich Urlaub zu machen. Ich habe das hier alles fast vor meiner Haustür. Ein Glück nur fast, denn ansonsten hätte ich keinen Grund abends noch einmal eine Runde zu drehen. Trotzdem möchte ich auch mal reisen und etwas anderes sehen. Das habe ich das letzte Mal vor drei Jahren gemacht. Kopenhagen ist toll. Aber ich glaube, da, irgendwo hinter diesem See vor mir, ist noch viel mehr zu entdecken. Neue Leute, die ich kennenlernen möchte. Neue Straßen, die ich erfahren möchte. Und neue Städte und Dörfer, die ich anschauen will. Im Winter bekommen Henkelmännchens Sitze eine Überarbeitung. Vielleicht sollte ich sie jetzt noch einmal so richtig benutzen und einige Roadtrips mit ihnen machen? Wenn ich Zeit dafür habe? Oder sie mir einfach dafür nehme? Es wird vielleicht nicht die gemütlichste Reise, aber…
Ich schaue auf die Uhr. Ich habe meine selbstgesetzte Mittagspause schon um eine halbe Stunde überschritten. Es wird Zeit, dass ich mich aufmache, ansonsten schaffe ich mein Tagesziel nicht. Ich nehme meinen Müll mit in den kleinen Golf, stecke den Zündschlüssel in das Zündschloss und drehe. Keine komplette Anlasserdrehung und der Motor hustet ins Leben und verfällt sofort in einen runden Leerlauf. Ungewöhnlich. Das macht er sonst nicht. Ob Henkelmännchen auch diesen Sommer einiges von der Welt sehen möchte? Anstatt immer die gleichen Strecken an den Nordseedeich, zum Supermarkt oder über Feldwege durch Dithmarschen? Freudig hüpft er von Schlagloch zu Schlagloch und fährt danach ruhig über die Teerstraße. Wir kommen an eine Kreuzung. Der rechte Weg führt fast direkt nach Hause. Den linken Weg bin ich noch nie gefahren.
Ich schaue in den Rückspiegel. Es ist niemand da. Ich schaue auf meine Armbanduhr, nehme sie ab und lege sie auf den Beifahrersitz. Stress macht man sich höchstenst selbst.
Ich setze den Blinker links, lege den ersten Gang ein und fahre los.
Das sollte man viel öfter tun.
Das machst Du absolut richtig junger Mann. 🙂 Geniess das Leben und fahr die alten analogen Kisten, sie tun der Seele gut.
Wo Du mich aber geschockt hast, ist die Tatsache, dass Du mit 180 unterwegs bist. Ich habe Dich immer als so überkorrekt wahrgenommen. :-))
Hey Marc,
es geht nichts über alte Autos, oder? Muss ich dich ja gar nicht fragen. Bei deinem Fuhrpark ;-). Bist du mit deinem 300er schon unterwegs gewesen?
Und, mein lieber Marc, 180 auf der Autobahn ist hier erlaubt ;-). Und überkorrekt… da merkt man, dass du mich (noch) nicht persönlich kennengelernt hast. Dann würdest du wohl anders denken ;-).
Schöne Grüße
Lars
Hoi Lars
Absolut, da sind wir uns einig! Der 300er war schon in der alten Heimat meines Grossvaters im südlichen Freistaat. 🙂 Bericht hierzu folgt wohl am Wochenende. 🙂
Und ja, wir fuhren auch zügiger als 130 mit dem Benz, dafür wurde er ja gebaut. 🙂
Ich weiss, dass 180 erlaubt sind, aber diverse seriöse Landsleute von Dir halten sich an die Richtgeschwindigkeit. Ich zählte Dich unbekanntermassen dazu. 🙂
Hey Marc,
also bist du selbst auch ein Raser ;-). Aber gut, der 300er verleitet dazu wohl auch mal.
An die Richtgeschwindigkeit hält sich auf meiner Pendelstrecke kaum jemand. In den letzten Wochen, in den ich aus ein paar verschiedenen Gründen Passat gefahren bin (warum, liest man hier bald), hab ich den Tempomat schön auf 110 km/h gesetzt und bin nach Hause gecruised. Total entspannend. Und gegenüber zum „Nach Hause rasen“ habe ich gerade einmal 5 Minuten länger gebraucht. Das ist ja nichts.
Schöne Grüße
Lars
Ja, mit alten Autos ist es so wie mit alten Menschen. Ältere Menschen hören einen besser zu, sind nicht hektisch und man sagt sie sind weise. Alte Autos wirken ähnlich beruhigend, wie man aus dem Artikel entnehmen kann. Schön geschrieben, vielen Dank 🙂
Hey David,
vielen Dank für den netten Kommentar! Das geht ja runter wie warmes Öl ;-). Alte Autos wirken wirklich oft so, als würden sie zuhören und einem Sachen nicht so übel nehmen.
Ich mag alte Autos. Auch, wenn sie manchmal kaputt gehen 😉
Schöne Grüße
Lars