Erziehung vergessen.

„Nimm Dir Zeit und nicht das Leben!“, so sagte die Werbung der „Gasolin“-Tankstellen.comp_comp_SAM_9333Aber warum vergessen das heute so viele? Warum wird nur noch gehetzt und gemotzt?

Ich schaue in den Rückspiegel. Im Auto hinter mir sitzt ein dunkler, buschiger Schnurrbart, umgeben von einem hochroten, runden Kopf. Er bewegt sich stark, dieser Schnurrbart, denn der Mann, der an besagtem Schnurrbart hängt, regt sich auf. Er ist wütend. Er schreit. Er gestikuliert. Er lässt sein Auto hupen und die Lichthupe aufblitzen. So langsam werde ich auch etwas nervös. Im Radio läuft eines meiner Lieblingslieder und ich kann es kaum verstehen. Sein Herumgehupe passt kaum in den Takt. Leicht wütend umklammere ich das abgegriffene Lenkrad meines alten Kombis. Sofort habe ich schwarze Krümel in der Hand. Ich drehe das Radio lauter. Das Hupen hört nicht auf.

Was ist das nur für ein komischer Mensch hinter mir? Und was will er?

Die Gartenzwerge der Vorgärten dieser eigentlich idyllischen Wohnsiedlung am Stadtrand der Hansestadt Hamburg schauen genauso empört zwischen den Hecken hindurch wie die verbliebenden Anwohner (Also die, die nicht wegen eines geplatzten Trommelfells behandelt werden müssen) durch die Gardinen. Der Kerl hinter mir hupt immer noch. Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz vor neun. Die meisten Leute arbeiten zum Glück schon. Mit quietschenden Reifen fährt er an und versucht mich zu überholen. Es scheitert. Knackend legt er den Rückwärtsgang ein und jagt wieder mit einem Affenzahn hinter das Heck meines Kombis. Warum erlebe ich so etwas in letzter Zeit eigentlich immer häufiger?

Ich finde es zum kotzen. In letzter Zeit herscht auf den Straßen Norddeutschland eine richtige „Formel-1-Stimmung“. Jeder will der erste sein, jeder will möglichst schnell an das Ziel kommen. Andere Verkehrsteilnehmer? Gegner, ganz klar. Klar ist auch, dass dieses Verhalten eigentlich schon immer auf deutschen Straßen zu beobachten war. Aber in letzter Zeit fällt es mir immer mehr auf. Woran mag das liegen? Liegt es an den Fahrern? Oder bin ich selbst so gestresst, dass ich einfach anders reagiere und die Hektik im Straßenverkehr anders wahrnehme?

Ich glaube, ich werde Hupenhersteller. Der Verschleiß muss enorm sein. Was ich in den letzten zwei Wochen, in denen ich gut 4000 Kilometer gefahren bin, erlebt habe, das geht auf keine Kuhhaut. Da ist der Idiot hinter mir sogar noch relativ harmlos. Von pöbelnden comp_comp_SAM_7623aAutofahrern, die eine Rollstuhlfahrerin anschnauzten, die es während der Rotphase nicht komplett über die Straße geschafft hat, über Idioten, die sich durch die Rettungsgasse oder den Standstreifen möglichst weit nach vorne in den Stau schummeln wollten bis hin zu Hupkonzerten vor einer wegen eines Defekts geschlossenen Schranke einer Tiefgarage. Alles war dabei. Als wäre Hupen, Jagen, Drängeln, Pöbeln in irgendeiner Weise hilfreich?!

Der Vogel hinter mir hupt schon wieder. „Ja, wo soll ich denn hin?“ rufe ich ihm zu. Er wird es nicht hören. Was denken sich solche Leute eigentlich? Haben sie es so eilig? Ist es so wichtig, als erster im Büro zu sein, weil der Abteilungsleiter ansonsten vielleicht kein gutes Wort beim Chef einlegt? Ist der Terminplan morgens so voll, dass man nach dem Besuch bei den Nachbarn (von dem der Partner/die Partnerin natürlich nichts wissen darf…) nicht einmal fünf bis zehn Minuten früher losfahren kann? Andauernd sehe in Hamburg Leute, die mit einem Kavalierstart an der Ampel losbrettern, alle überholen und schneiden und an der nächsten roten Ampel wieder neben mir stehen. Ähnliches gilt auf der Autobahn, nur, dass ich die Autos, die vorher bei 160 km/h drei Zentimeter hinter meiner Heckstoßstange klebten, meist im Stau wieder treffen, während ich von der Autobahn herunterfahre.

Er hupt wieder. Dieses Mal immer in gleichen Abständen. Ich atme tief durch. Stress kann Menschen kaputt machen. Ich hatte in den letzten Wochen einiges an Stress – wenig comp_comp_SAM_6265Schlaf, viel Arbeit und ganz viel Zeit hinter dem Steuer eines Autos. Das habe ich gemerkt. Ich war genervt, müde und sehr leicht reizbar. Und immer spät dran. Nicht selten habe ich meinen Diesel über die Autobahn gescheucht und bin auch durch die Stadt ein wenig flotter gefahren. Aber auch das ist zusätzlich noch stressig. Für diese Woche habe ich mir vorgenommen, für die Fahrten mehr Zeit einzuplanen (sofern möglich), um Termin- und Zeitdruck zu entgehen. Der Sandmann hat mit seinem Artikel „Aller guten Dinge“ für Inspiration gesorgt. Es klappte tatsächlich. Bis heute. Und das liegt nicht an dem Wagen, in dem ich sitze, sondern an dem Vogel hinter mir.

Er lässt den Motor wieder aufheulen. Er hupt jetzt dauerhaft. Bestimmt eine halbe Minute durchgehend. Anscheinend braucht er eine Brille. Ich schaue durch meine und denke nach, ob er denn auch das selbe sieht. Ich sehe eine zweispurige, nicht besonders breite Straße. Die Gegenfahrbahn steht voll mit geparkten Autos, alles hübsch mit Laub bedeckt. Vor mir steht ein großer Müllwagen, fast so breit wie die Fahrspur. Zwei Männer der Stadtreinigung Hamburg rollen die Mülltonnen zum Heck des Wagens. Seit ungefähr zehn Minuten fahren wir hinter dem Müllwagen her – und es ist kein Vorbeikommen. Ich bin genervt. Nicht aber wegen des Müllwagens, sondern wegen des Idioten hinter mir, der wohl versucht mit den Schallwellen seiner Hupe den Müllwagen und meinen Kombi wegzublasen. Er will freie Fahrt. Ich hole tief Luft und versuche ruhig zu bleiben.

Der Müllwagen ist ein Haus weitergerollt. Keine zwanzig Meter. Ich will gerade den ersten Gang einlegen, als hinter mir wieder der Motor zum Aufheulen gebracht wird, begleitet von dem Aufblinken der Lichthupe. Mir reicht es. Ich ziehe die Handbremse, schnalle mich ab und steige aus. Es regnet, also ziehe ich mir die Kapuze meines schwarzen Pullovers über den Kopf. Leicht wütend gehe ich mit großen Schritten auf den schwarzen Golf zu. Ich höre ein leises Klicken der Zentralverriegelung des Kompaktwagens. Der Fahrer hat also abgeschlossen. Er hat seinen Mut verloren. Ich schaue durch die Scheibe der Fahrertür in den Wagen. Der Fahrer ist nicht mehr ganz so rot im Gesicht, sein buschiger Schnurrbart bewegt sich kein Stück mehr. Er schaut stur geradeaus auf das dreckige Heck meines Kombis. Die Hände befinden sich ordnungsgemäß am Lenkrad. Er würdigt mich keinen Blickes. Wie ich vermutete.

Ich klopfe an. Der Fahrer reagiert nicht. Ich schaue auf den Opel hinter ihm. Die Fahrerin lacht freundlich. Ich klopfe noch einmal an die Scheibe des schwarzen Golfs. Natürlich dreht er sie nicht runter, also muss ich laut reden. „Was ist Ihr Problem?“, rufe ich laut, aber ruhig heraus. Ich versuche meinen hohen Puls und meine Wut nicht durchzulassen. „Haben Sie etwa Durchfall? Oder warum haben Sie es so eilig?“ Der Fahrer wird wieder rot – und schaut weiterhin stur geradeaus, als hätte er Angst. Angst vor mir, einem Menschen, der hauptberuflich als Strichmännchen arbeiten könnte. Oder als Skelett in einer Schule. Es war mir klar. Im Auto den großen Max machen, aber bei der richtigen Konfrontation dann wieder abknicken. Das wird nicht nur im Straßenverkehr immer häufiger. Der Müllwagen rollt inzwischen noch ein Haus weiter. Zwischen der Front meines Autos und dem Heck des Müllwagens sind inzwischen bestimmt 40 Meter Platz.

„Wenn Sie sich nicht mehr Zeit lassen, dauert alles nur noch länger!“

Ich gehe zurück zu meinem Auto und setze ich mich hinein. Ich lege den ersten Gang ein und rolle die vierzig Meter bis zum Müllwagen vor. Bis der Müllwagen abbiegt soll es an diesem Tag kein Gehupe von ihm mehr geben.

Ich schalte das Radio an. Eric Clapton singt „Layla“. Auch nicht schlecht. Ich drehe das Radio lauter, lehne mich ein wenig zurück und genieße die Musik.

Denn ich habe ja Zeit.

Watt'n Schrauber

Autoverrückt, restauriert einen Buckelvolvo mit wenig Budget, mag Fotografieren, Tanzen und ist manchmal wohl ein wenig durcheinander. Und mag Norddeutschland.

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No Responses

  1. spidersnoopy sagt:

    Ja es wird immer nach meinen Empfindungen immer etwas wilder. Dunkelrote Ampel werden ignoriert, ignorieren von Fahrspuren, Busspuren, Radspuren. Sehr beliebt auch das überholen auf Abbiegerspuren… da heißt es Ruhe bewahren was mir auch nicht immer gelingt.

    • Hey Christoph!
      Es ist manchmal echt zum Mäusemelken, was sich Leute so zurecht fahren. Hatte es gestern Abend erst, als ich aus Hamburg gekommen bin. Porsche Cayenne überholt über den Standstreifen drei LKW. Natürlich ist da dann kein Streifenwagen in der Nähe… Aber naja 😉

      Schöne Grüße
      Lars

  2. turboseize sagt:

    Slow is smooth and smooth is fast.

  3. Thorsten sagt:

    Hallo Lars!
    Ich kann Deine Reaktion voll und ganz verstehen – doch denk bitte daran dass Dein Handeln Dir wenn es ganz schlecht läuft, eine Menge Ärger einbringen kann.
    Anhalten – aussteigen – an die Tür des Autos klopfen – kann manch komischen Verkehrsteilnehmer ( und so einen beschreibst Du ja ) dazu veranlassen Dich wegen Nötigung anzuzeigen. Die Jungs von der Rennleitung stehen bei uns im Ruhrgebiet auf so was und die Post von der Staatsanwaltschaft zu beantworten ist nicht wirklich lustig.
    Deine Reaktion ist wirklich verständlich – aber aus eigener Erfahrung kann ich Dir nur raten die Musik lauter zu drehen und die Idioten hupen zu lassen bis die Kabel glühen.
    Beste Grüße Thorsten

    • Hey Thorsten,

      keine Sorge, ich habe einige Textpassagen zur Unterhaltung spannender gemacht ;-). Ich war noch vollkommen im legalen Bereich unterwegs.

      Was mich aber wundert – und was ich bis jetzt auch nicht wusste – das ist echt Nötigung? Und das ist minutenlanges Hupen, Drängeln und Gasgeben nicht?

      Und ja – meistens drehe ich die Musik lauter und tanze im Sitzen. Manchmal winke ich auch 😉

      Schöne Grüße
      Lars

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