Wenn Männer weinen
Es gab Zuwachs im Watt’n Schrauber-Fuhrpark. Ganz spontan habe ich etwas gekauft. Heute möchte ich euch vom emotionalsten Kauf erzählen, den ich jemals erleben durfte.
„Weihnachten werde ich wohl nicht mehr erleben.“
Sofort habe ich einen Kloß im Hals und muss schlucken. Ich schaue in die traurigen, feuchten Augen meines Gegenübers. Ich habe ihn gerade erst kennengelernt, doch am liebsten würde ich ihn einmal umarmen und drücken. Krebs ist ein Arschloch. Magenkrebs, höchstwahrscheinlich Endstadium. Leer schaut er zum Deich, seine Augen sind blutunterlaufen – das kommt wohl von der Chemo-Therapie. „Ich mochte hier wohnen. In Siedlungen kann man ja immer sehen, was der Nachbar in der Pfanne hat.“ Ich antworte ihm irgendetwas belangloses. Wahrscheinlich irgendetwas wie „Das wäre auch nichts für mich!“ oder so. Ich konzentriere mich mehr auf seinen Blick als auf eine tiefgründige Antwort. Er steht vor mir, neben seinem kleinen Häuschen am Deich und schaut in die Ferne. Eine Mischung aus „Warum ich?“ und „Dann soll es so sein.“ sind ihm ins Gesicht geschrieben. Was ich wohl an seiner Stelle tun würde? Ich kann es nicht sagen. Mit einem „Dann sehen wir uns Dienstag wieder?“ holt er mich zurück in die Realität.
Unverhofft kommt oft.
Es war nicht geplant, dass der Fuhrpark weiterwächst. Wirklich nicht. Seit ich Hein gekauft habe, schaue ich nicht mehr nach alten Fahrzeugen. Genug ist genug. Wobei – ab und zu werfe ich schon nochmal einen Blick ins Internet, ob ich nicht irgendwo mein Traumauto für ein paar hundert Euro finde – ansonsten sind Autobörsen und Auktionshäuser für mich aber absolut tabu. Doch trotzdem gibt es immer wieder Geschichten, die selbst das kälteste Herz erweichen lassen. Und genau so eine Geschichte möchte ich euch heute erzählen.
Es war der Freitag vor Pfingsten, als ich eine Nachricht von Karsten bekam: „Willst ‘ne 50er Hercules haben? 77er Baujahr, fahrfähig.“ Ich freute mich total, dass Karsten an mich gedacht hatte. Wahrscheinlich passte ein kleines Zweirad nicht wirklich in seinen Fuhrpark, der aus luftgekühlten Volkswagen und schnellen Autos mit dem Stern auf der Haube besteht. Und auch ich hatte eigentlich keine große Meinung davon, noch ein Moped zu besitzen. Meine Zündapp, die ich vor drei Jahren kaufte, hatte mich schon genug geärgert. Ich weiß nicht, wie viele Kilometer ich das kleine Moped schieben musste, weil irgendetwas wieder aufgegeben hatte. Auf jeden Fall waren es mehr Kilometer als ich fahrend auf dem Sattel verbracht habe. Ein Jahr ließ ich vor lauter Frust und Wut das Moped in der Ecke stehen, bis ich es in diesem Frühjahr reanimierte. Zweiradfahren gefällt mir. Aber die ganze Geschichte noch einmal von vorne? Nein, danke.
„Schau sie dir doch einfach einmal an.“
Zwei Tage konnte ich Karstens Stichelleien standhalten, dann war es vorbei. Es war am Abend des Pfingstsonntags, als ich zum Telefonhörer griff und die Nummer wählte, die mein Kumpel mir gegeben hatte. „Karsten hat ja recht. Anschauen kostet ja nichts“, ging es mir durch den Kopf, als ich das tutende Leerzeichen hörte. Die Informationen waren ja bis dato recht spärlich. Eine 50er hätte ein Mofa oder ein Moped sein können. Und fahrfähig? Das hat auch nicht viel zu sagen. Und selbst wenn ich das Zweirad nicht nehmen würde – wenn ich es erst einmal gesehen habe, könnte ich ja viel besser bei der Suche nach einem neuen Zuhause helfen. Das Moped sollte ja auf jeden Fall weg, so viel war sicher.
Noch am gleichen Abend parkte ich meinen roten Kombi vor dem kleinen Häuschen. Eine wirklich ruhige Gegend. Der Deich in Sichtweite, keine direkten Nachbarn – dort würden sich viele Menschen sofort wohlfühlen. Ich lief durch den gepflegten Vorgarten in Richtung Eingangstür, voller Spannung, was mich nun wohl erwarten würde. Die knallgelben Begonien fielen mir sofort ins Auge. Anscheinend waren sie gerade frisch gepflanzt und gewässert worden, der Gartenschlauch lag noch ausgerollt daneben. Ich hatte gerade erst auf den Klingelknopf gedrückt, als ich die schwache Stimme hinter mir hörte. „Moin Moin! Das Moped steht hier, kommen Sie.“ Das erste Mal in meinem Leben traf ich auf Herrn Hansen (Name geändert). Ein bisschen kleiner als ich, graue Haare, adrett gekleidet, dazu ein sympathisches, leicht verschmitztes Lächeln, als ich ihm die Hand reichte und mich vorstellte. Ein Mann vom Typ „Opa“, der mit seinen Enkeln gerne Faxen macht und Baumhäuser baut.
Manchmal kauft man auch die Geschichte.
Mit einem lauten „Roms“ fiel die Fahrertür meines Kombis ins Schloss. Kurz atmete ich tief durch, doch wirklich realisiert hatte ich das alles noch gar nicht. Ich hatte es getan. Ich hatte noch ein Moped gekauft. Eine Hercules – das war klar. In blau. Kein Mofa, sondern ein fast ausgewachsenes Moped. 1998 wurde es dort abgestellt und seitdem nicht mehr gefahren. Und ehrlich gesagt? Mehr wusste ich gar nicht. Ich schaute nicht darauf, ob das Moped irgendwo zerkratzt oder verrostet war. Ich schaute nicht einmal, ob der Rahmen noch gerade oder so krumm war wie eine Banane. Nicht einmal auf das Modell hatte ich geachtet. Während der Stunde, die ich in der Garage mit Herrn Hansen verbrachte, war das Moped einfach zur Nebensache geworden. Er erzählte mir von sich und seinem Leben. Geschichten von seiner Kindheit, seiner Arbeit und seinem Garten. Und von einer Fehldiagnose, die ihm inzwischen immer mehr Kraft raube.
„Eigentlich wollte ich sie immer noch einmal fahren, aber das wird wohl nichts mehr“, sagte er mir leise, als wir aus der Garage herausgingen. Vierzig Jahre begleitete ihn die Maschine. Einmal noch wollte er den Fahrtwind im Gesicht spüren und dem Zweitakter beim Knattern zuhören. Doch die Zeit spielte gegen ihn. Wir gingen durch den Garten zurück zu meinem Auto, als er mir erzählte, wie er heute die Begonien gepflanzt und gewässert hatte. „Die gehen mir ja ein, so trocken, wie das hier ist.“ Ich bewunderte Herrn Hansen, wie er besorgter um seine Blumen war, als um sich selbst. Er hatte mir erzählt, wie schwach er geworden war. Zu schwach, alleine zu laufen. Zu schwach, die beiden Stufen vor der Haustür hochzusteigen. Und zu schwach, die Hercules wieder in Gang zu bekommen. Trotzdem machte er sich Sorgen um die knallgelben Begonien, die mit ihrer Farbe eine Prise Lebensfreude im Garten verteilten. In diesem Moment sagte ich den Kauf zu. Der Preis war eher symbolisch und vollkommen okay. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich nicht verhandelt habe. Es hätte sich nur falsch angefühlt.
Ein Abschied. Nicht für immer.
Es war der Dienstag nach Pfingsten, als wir das kleine Moped schließlich aus der Ecke befreiten, in der es zwanzig Jahre stand. Die Voraussetzungen dafür waren ganz gut. Das Moped ließ sich super schieben, als Zugfahrzeug hatte ich mir Hein ausgesucht, der das Auto mit der größten Anhängelast im Fuhrpark ist. Einen größeren Anhänger hatte mir unser Nachbar geliehen, der einer der hilfsbereitesten Menschen ist, die ich kenne. Und meinen Vater hatte ich als Aufpasser an Bord. Einer muss ja gucken, ob ich alles richtig verzurre. Aber all das nützte nichts. Ich fühlte mich sehr unwohl. Ich wusste, dass es Herrn Hansen wirklich schwerfallen musste, seine Hercules nach vierzig Jahren abzugeben. Vor allem unter diesen Umständen. Doch Herr Hansen schien erstaunlich gefasst. Er entschuldigte sich, dass er das Moped nicht noch geputzt hatte. Er habe am Vormittag eine Chemo bekommen und nachmittags einfach keine Kraft mehr dazu, erklärte er mir. Trotzdem half er tapfer beim Verladen und Verzurren.
Als ich mich verabschiedete, kullerten Herrn Hansen dann aber doch noch große Tränen über die Wangen. „Es fällt mir schwer…“, sagte er mit zitternder Stimme, als ich ihm die Hand gab. Es war für ihn wohl doch alles zu viel. Seine Krankheit, die Schwäche und die ungewisse Zukunft. Und nun nahm ich ihm auch noch ein Stück seiner Lebensgeschichte weg. Sein geliebtes Moped, das er immer noch einmal fahren wollte. Am liebsten hätte ich die Hercules gleich wieder abgeladen und ihm in die Garage gestellt. Es war unheimlich hart, ihn so traurig zu sehen, den Mann, den ich erst vor zwei Tagen kennenlernte. Auch mein Vater hatte feuchte Augen, als Herr Hansen ihm schluchzend die Hand gab. Wer sagt, dass Männer nicht weinen dürfen, hat überhaupt nichts begriffen.
„Ich komme Sie mit der Hercules besuchen“, meinte ich zu Herrn Hansen, als ich ihm noch schnell eine kleine Schachtel Pralinen überreichte, die ich ihm als Dankeschön eingewickelt hatte. „Und wenn Sie nicht fahren können, dann sind Sie der Sozius.“ Ein kleines Lächeln blitze in seinem Gesicht auf. Sofort wusste ich, dass ich wohl doch alles richtiggemacht hatte. Bei mir würde nicht nur sein Moped, sondern auch seine Geschichte weiterleben.
Es wird eine Menge Arbeit werden, die Hercules wieder fitzumachen – aber ich werde euch davon berichten, wie es mit dem Moped weitergeht. Möglichst zeitnah, natürlich. Ich muss es ja bald fahren.
Ich habe es Herrn Hansen schließlich versprochen.
Hey Lars,
bei der Geschichte bekomme ich einen Kloß im Hals.Mir wäre es genauso gegangen wie dir bei der Übergabe. Zuviel ist passiert in letzter Zeit und passiert noch in der Hinsicht in meinem privaten Umfeld. So ähnlich werde ich wohl in nächster Zeit wieder zu einem Hund kommen…
Mal was Positives: Mein 940 ist wieder auf der Strasse. Gestern gabs die gelbe Plakette (darf ich jetzt eigentlich noch in die Zone??) ohne Mängel im ersten Anlauf.
Hey Thorsten,
das sind ja schöne Nachrichten! Und? Fährst du deinen Volvo nun wieder täglich? Oder ist der S70 schon im Einsatz? Ich muss mal dringend wieder im Fusselforum nachlesen, um einen aktuellen Überblick zu bekommen 🙂
Schöne Grüße
Lars
Ähnlich war es bei meiner „Inbesitznahme“ von ED (blaue Typ44-Limo).
Da standen dem Sohn vom Besitzer auch die Tränen in den Augen…..
Story in Kurzform:
Typ44-Verein bekam das Angebot, einen 44er geschenkt zu bekommen.
Da der Wagen in HH Langenhorn stand, war es für mich quasi um die Ecke und hatte für den übernächsten Tag einen Besichtigungstermin vereinbart.
Als wir ankamen, war der Sohn schon am Wagen und erzählte uns alles zu dem Wagen.
Papa hatte ihn als Nachfolger für seinen heißgeliebten Typ43, der einen Motorschaden hatte, 1992 gekauft.
Da der 44er auf Stahlfelgen beim Kauf stand, hatte Papa kurzerhand die Alus vom 43er aufziehen lassen.
Irgendwann ging es Mama nicht gut, und sie konnte im Sommer nicht mehr in dem aufgeheizten 44er mitfahren > so wurde 1997 eine manuelle Nachrüstklima von einem Boschdienst eingebaut.
Irgendwann ist Mama gestorben, das Auto blieb.
Papa ist dann an Demenz erkrankt und wurde vom Sohn mit dem 44er zum Arzt usw. gefahren…..
Anfang 2017 ging es zu Hause nicht mehr und Papa musste ins Heim > aufm Nachtschrank stand ein Bild vom Sohn und vom 44er.
Das Bild von seiner Ehefrau musste entfernt werden, die hatte er nicht mehr erkannt, aber wenn der Sohn zu Besuch kam, zeigte Papa auf das Bild vom Auto und fragte wie es seinem Auto geht.
Im Oktober 2017 verstarb Papa, und der Sohn konnte sich nicht von dem Wagen trennen…. bis er merkte das es zuviel wird (selbst Oldtimerbesitzer, aber dem Stern verschrieben).
Auf Export und was ist letzte Prraise hatte er keine Lust, und er wollte das der Wagen zumindest in Teilen weiter lebt, so hatte er unseren Verein gegoogelt und ihn zu verschenken angeboten.
Mein Plan den Wagen zu Schlachten wurde ganz schnell übern Haufen geworfen (nimm nie (D)eine Frau mit zu einer „Schlachterbegutachtung 😀 ), meine Frau hat sich sofort in den Kahn verliebt (Automatik, blauer Lack mit blauer Innenausstattung) und mir unter Androhung der Todesstrafe das Schlachten verboten……
Aber spätestens nach der Story war auch für mich klar, der Wagen darf nicht „grundlos“ sterben.
So war mein Fuhrpark auch ungewollt um ein Fahrzeug gewachsen und der Platz auf dem Hof weniger geworden.
Hey Oliver,
ich konnte mich nur zu gut an die Geschichte erinnern. Ihr habt sie mir auf dem Oldtimertreffen in Büsum erzählt. Und irgendwie musste ich auch ein kleines bisschen daran denken, als ich die Hercules abgeholt habe.
Es gibt halt Geschichten, die müssen bewahrt werden. Vielleicht träume ich deshalb schon seit Jahren von meinem eigenen, kleinen Automusem?
Schöne Grüße
Lars
Hallo Lars,
das erinnert mich sehr an den Kauf meines Golf Cabrios vor 10 Jahren.
Ich hatte die Verkäuferin ziemlich heruntergehandelt, weil das Auto einiges an Mängeln hatte und nicht mehr wert war.
Nach der Unterzeichnung des Kaufvertrags und Übergabe der Kaufsumme erzählte dann die Frau unter Tränen, dass es das Auto ihres vor Kurzem verstorbenen Lebensgefährten gewesen war und dass es ihr schon schwer fällt, sich davon zu trennen. Aber sie bräuchte das Geld und es bliebe ihr nichts anderes übrig, als das Auto zu verkaufen.
Da hatte ich schon ein etwas schlechtes Gewissen, sie so weit heruntergehandelt zu haben.
Gruß Jürgen
Hey Jürgen,
ich kenne die Geschichte deines Golfs ja. Im besten Zustand war er ja damals nicht mehr, oder? Zumindest ist der Golf bei dir ja in den besten Händen. So, wie ich dich kenne, wird der Golf schließlich noch hundert Jahre alt! 😉
Schöne Grüße
Lars