Und plötzlich ist alles endgültig
„Das Leben geht weiter!“, heißt es doch immer so schön. Es ist ja auch etwas Wahres dran.Und auch wenn es nur materielle Dinge sind, fällt es mir doch irgendwie schwer…
Bevor ich euch die Zeit stehle, möchte ich euch kurz vorwarnen. Falls ihr gerne etwas über Autos lesen wollt, dann ist dieser Beitrag nichts für euch. Ihr könnt dann gerne wieder Katzenvideos schauen oder einfach andere Beiträge hier lesen. Eigentlich wollte ich diesen Beitrag auch gar nicht veröffentlichen, denn wirklich fröhlich ist er nicht. – Da ich den Blog aber eigentlich für mich schreibe und weil heute Muttertag ist, habe ich es doch getan. Ich wünsche euch einen schönen Sonntag!
„Schau mal Papa, ein altes Auto!“
Der kleine Junge mit der roten Baseballcap stand am Straßenrand, zog am Ärmel seines Vaters, zeigte erst auf Elsa und winkte mir dann zu. Ich ließ Elsa zwei Mal aufhupen, lächelte und winkte zurück, was ihn so sehr freute, dass er ein paar Mal auf der Stelle hüpfte. Im Spiegel sah ich noch, wie sein Vater meinem beigefarbenen Buckelvolvo hinterher winkte. Auch er schien sich zu freuen. Ein kurzer Lichtblick auf einer ansonsten eher dunklen Fahrt. Auch wenn die Sonne schien, ich mit meiner Volvo-Dame „Elsa“ fuhr und ich eigentlich allen Grund gehabt hätte, war es wirklich kein bunter Tag. Der Tag war eher schwarz-weiß – also wenn man von der roten Kappe absieht. Deshalb sind heute auch fast alle Bilder schwarz-weiß. Mir ist einfach nicht nach Farbe zumute.
Dabei waren ihr Farben immer so wichtig. Besonders im Garten. Zu jeder Jahreszeit war ihr Garten ein Meer aus Farben – außer natürlich im Winter. Und dieses Farbenmeer erstreckte sich auch wieder vor mir, als ich Elsa auf den kleinen Parkplatz vor ihrem Häuschen steuerte und ausstieg. Ich hatte mir für die Fahrt extra Elsa ausgesucht, um wenigstens ein bisschen Spaß zu haben. Ein Kombi wäre garantiert praktischer gewesen, doch darauf hatte ich keine Lust. Und eigentlich hatte ich auch keine Lust, diese Aufgabe heute zu erledigen. So langsam müssen wir nämlich das kleine Häuschen meiner Oma leerräumen. Seit ihrem Tod im Januar steht es leer und soll schon recht bald wieder mit frischem Leben erfüllt werden. Und auch, wenn ich mich darüber freue, dass andere Leute die vier Wände genießen können, die meiner Oma immer so heilig waren, wehrt sich in mir alles, ihre Sachen anzufassen, zu verschenken oder wegzuschmeißen. Es fühlt sich einfach falsch an.
Und damit bin ich nicht alleine.
Irgendwie erwarte ich immer noch eine offene Haustür, wenn ich die Auffahrt entlang auf das Häuschen zugehe. Oma hatte die Tür tagsüber nämlich immer offen. Sie freute sich auch immer über Gäste, die auch gerne unangemeldet vorbeischauten. Und das taten wirklich viele. Einige kamen vorbei und erzählten Oma die neuesten Neuigkeiten, andere brachten ein Stück Kuchen mit und erzählten über vergangene Zeiten. Ich schaute immer dann vorbei, wenn ich Zeit hatte und wurde stehts von einem freudigen „Naa?“ begrüßt. Doch dieses „Naa?“ ertönte nur noch in meinen Gedanken, als mein Vater die Haustür aufgeschlossen hatte und wir ins Haus gingen. Es war still und es war kalt. Kälter als im Januar – vielleicht kam es mir auch nur so vor. Überall fehlten schon Dinge, überall klafften leere Schränke und Regale. Nur die Sitzecke war noch so, als würde Oma gleich aus der Küche kommen und sich hinsetzen. Und irgendetwas in mir hofft jedes Mal, dass das auch gleich passieren wird. Doch es wird nicht mehr passieren. Sie wird nicht mehr lachend durch die Tür kommen – außer in meinen Gedanken.
Wir haben noch nie wirklich darüber geredet, mein Vater und ich. Ich glaube, das brauchen wir auch gar nicht. Wir merken ganz gut, wie es dem anderen gerade geht. Wenn mein Vater traurig auf einem Stuhl sitzt und in Erinnerungen schwelgt, die so nie mehr wieder passieren werden, dann muntere ich ihn durch irgendeinen dummen Spruch auf. Und wenn ich Hemmungen habe, einen Schrank auszuräumen, dann ermutigt er mich. Wie zwei Zahnräder greifen wir da ineinander – zum Glück. Alleine einen Haushalt eines geliebten Menschen auflösen zu müssen, dürfte eine der härtesten Aufgabe sein, die es gibt. Zu zweit, zu dritt und zu viert ist das ja schon schwer, wie ich fast täglich merke. Doch nun waren nur zu zweit, irgendwann später wollte meine Mutter noch einmal vorbeisehen und mithelfen. Wir wollten einen alten Schrank abbauen, der auf den Sperrmüll sollte. Es wollte ihn einfach keiner mehr haben – nicht einmal geschenkt.
The first cut is the deepest
Optisch sah sie ja noch ganz gut aus, die große Schrankwand, die meine Oma irgendwann in den 70er Jahren von einem Schwager bekam. Leider war der Schrank aber komplett verzogen. Die Qualität war damals wohl nicht gerade die Beste, denn keine Tür ließ sich mehr richtig öffnen oder schließen. Erst hatte ich trotzdem überlegt, sie als Kleinteilelager in die Garage zu stellen, doch auch da ist kein Platz mehr. Auch so ließ sich leider kein neuer Besitzer finden – aber das kann ich ja auch verstehen. Ein Schrank, bei dem die Türen nicht mehr richtig aufgehen, ist halt nicht mehr wirklich als Schrank zu gebrauchen. Und für einen Tresor war er dann doch nicht sicher genug. Der Sperrmüll sollte also seine Endstation sein. Die Straßen des kleinen Örtchens waren schon einige Tage mit alten Möbeln dekoriert, da würde der Schrank ja super dazu passen.
Neben dem Schrank stand immer ein altes, ungestimmes Klavier, das meine Oma vor einigen Jahren dann doch schlussendlich verkaufte. Ich saß dort immer auf dem Hocker und drückte die weißen und schwarzen Tasten. Oder ich ließ die Spielzeugautos, die in einer Kiste unter ihrem Fernseher lagen, über den Schrank flitzen. Da war die Oberfläche nämlich glatt. Am besten flitzte ein bunter Hecktrieb-Skoda 130 von Matchbox, bei dem man auch die Motorhaube öffnen konnte. Am zweitbesten fuhr der blaue Renault 25 von Maisto, auf dem „V6 TURBO“ auf der Haube stand. Ich verstand damals zwar nicht so genau, was V6 Turbo hieß, aber ich war mir damals sicher, dass der Skoda besser war. Der flitzte eben viel schneller über den Schrank. Das letzte Wettrennen „Skoda vs Renault“ ging mir durch den Kopf, als ich mit dem Hammer ausholte und zum ersten Mal das Holz zum Bersten brachte.
Und überall Erinnerungen
Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde, bis aus dem Schrank ein großer Trümmerhaufen wurde. Wahrscheinlich wären wir schneller gewesen, doch zwischendurch musste ich kurz eine Pause machen. Ich hatte mir bei der Aktion die Hand nämlich ziemlich übel aufgeschnitten – irgendwo guckte wohl ein Nagel raus oder so. Ich habe es erst an dem langsam rot werdenden Hammerstiel bemerkt. Zu sehr pumpte wohl das Adrenalin durch meinen Körper. Jeder Schlag auf den Schrank fühlte sich an wie ein Elektroschock. Bei jedem Schlag musste ich an all die Feste denken, die wir hier gefeiert haben. Und an all die Leute, die inzwischen nur noch auf den Fotos und in Erinnerungen existieren. Es war immer irgendwie gemütlich, so wie man sich das Zuhause einer Oma vorstellt. Alles etwas altmodisch, alles etwas benutzt, doch stets gepflegt. Das war ihr wichtig. Der letzte Hammerschlag war mehr als eine Erlösung.
Mit verbundener Hand lief ich noch einmal durch das Haus. Überall sah ich Möbel und Gegenstände stehen, die mich an irgendetwas erinnerten und die schon bald in den Müll wandern sollten. Das machte mich plötzlich ziemlich traurig. Ein paar kleine Tränen tropften auf den Holzfußboden, als ich mich ans Fenster stellte, um kurz frische Luft zu schnappen. Wahrscheinlich war es die Angst, irgendwelche Geschichten zu vergessen, die mich plötzlich einholte. Oder es war die Kälte und die Leere in dem Haus, in dem sonst immer so viel gelacht wurde. Ich weiß, dass es nicht die Gegendstände an sich sind, die mich plötzlich so traurig machten. Man kann nämlich nicht alles behalten. Horterei sorgt nämlich nur für noch mehr Stress. „Ich vermisse dich einfach, Oma“, sagte ich leise, als mein Vater nach mir rief. Der Schrank sollte ja noch an die Straße.
Kurz bevor wir wieder nach Hause fuhren, warf ich einen Blick auf ihre fast noch unveränderte Sitzecke. Ich erblickte dabei das Foto eines mir sehr bekannten Autos. Omas Brille lag auf einer Zeitschrift, die einmal ein Interview mit Elsa und mir abdruckte. Ich weiß nicht, warum die Zeitschrift dort lag – mir war sie in den letzten Monaten zumindest nicht aufgefallen. Ich kann mich aber noch sehr gut erinnern, wie stolz Oma lachte, als ich ihr das Exemplar vor einigen Jahren in die Hand drückte und sie die kleine Reportage las. All die Jahre hatte sie die Zeitschrift aufgehoben – und anscheinend nicht einmal umgeblättert. Ein Gefühl von Wärme zog plötzlich durch das kalte, leere Haus. Ich ging nach draußen zu meiner alten Volvo-Dame, streichelte ihr über das warme Blechkleid und stieg ein. Bevor ich auf die Straße fuhr, schaute ich noch einmal auf das kleine Häuschen zurück. Es wurde von der Sonne angestrahlt, als würde Oma sich freuen. Fröhlich hupend fuhr ich davon.
Es ist ein Scherbenhaufen, vor dem man steht, wenn man das Leben eines geliebten Menschen auflöst – doch das ist irgendwann vergessen. Und dann bleiben nur noch die Erinnerungen an eine wundervolle Vase, die dieser Scherbenhaufen vorher einmal war.
Für immer.
Das hast du sehr schön geschrieben…
Vielen, lieben Dank, Carsten!