Feeling Good
Manchmal muss man einen Gang zurückschalten und sich etwas die Gegend anschauen. „Entschleunigung“ geht am besten mit einem alten Auto. Ich war mit Elsa unterwegs.
Der kleine Junge bleibt stehen.
Es regnet wie in Strömen. Seine Eltern drehen sich erstaunt um, als sie das Rummeln der Kunststoffreifen des kleinen Trettreckers plötzlich nicht mehr hören. Die gestrickte, grün-rote Mütze ist schon völlig durchnässt, auch die Regenjacke dürfte inzwischen nicht mehr viel nützen. Doch dem kleinen Mann scheint es egal zu sein. Mit großen Augen schaut er seine Eltern an und zeigt auf die Kreuzung, an der der Bürgersteig vorbeiführt. Der Nebel drückt schwer auf die Dächer von St. Michaelisdonn, die rot-goldenen Bäumen rauschen durch den Regen mit lautem Getöse. Ich winke dem Treckerfahrer durch die geteilte Windschutzscheibe, auch Elsa grüßt mit ihren emsig wischenden Scheibenwischern. Vorsichtig, aber grinsend winkt er zurück. Ich schaue nach links und ich schaue nach rechts. Die Straße ist frei. Vorsichtig lege ich den Gang ein und lasse die Kupplung kommen. Der kleine Junge ist aufgestanden und scheint ganz erfreut irgendwas zu rufen, als Elsas Motor aufheult und sich der alte, beigefarbene Volvo in Fahrt setzt. Die Eltern winken mir zu. Elsa grüßt fröhlich hupend zurück. Im Rückspiegel sehe ich drei grinsende Gesichter.
Es ist Herbst. Die Tage werden kürzer, die Uhren ticken anders. Es ist grau, es ist nass und es ist kalt. Und zu allem Überfluss macht uns allen auch noch die Covid-19-Pandemie zu schaffen. Die Infektionszahlen steigen von Tag zu Tag, unheimlich vielen Leuten geht es wirklich schlecht. Wer sich nicht selbst angesteckt hat, sorgt sich um Verwandte und Freunde. Zukunft- und Existenzängste, Kontaktbeschränkungen und Einsamkeit gehört genauso zu unserem Alltag wie Maskenpflicht, Desinfektionsmittel und Mindestabstand. Man könnte fast vergessen, was für ein schönes Schauspiel uns die Natur gerade bietet. Als mich vor ein paar Tagen der Herbstblues etwas sehr erwischt hatte, habe ich mich in meine alte Volvo-Dame Elsa gesetzt. Mit einem Ziel: Ich wollte etwas Schönheit in dieser komischen Zeit finden.
Doch die Chancen standen nicht so gut.
Als ich Elsa für die Tour aus der Garage holte, erstreckte sich über unser kleines Dörfchen ein wunderbarer, strahlendblauer Himmel. Doch kaum hatte ich die Grenze des kleinen Dörfchens, das ich Heimat nenne, verlassen, verdunkelte sich der Himmel und es fing an zu regnen. Doch das machte mir nicht sonderlich viel. Zwar bringt es mir nicht ganz so viel Spaß, mit einer 6-Volt-Anlage und eher mickrigen Scheibenwischern durch die Gegend zu fahren – aber zur Entschleunigung eignet sich nichts besser als ein altes Auto. Zu abgekapselt fühlen sich neue Autos an. Sie sind dafür konstruiert, die Reise so kurz, gemütlich und flott wie möglich zu machen. In einem Oldtimer ist die Reise das Ziel. Vielleicht ist das Fahren etwas anstrengender und man ist auch etwas langsamer unterwegs – aber genau das ist das, was ein Mensch ab und zu einmal braucht. Entschleunigung. Ohne Stress und mit ganz viel Natur.
Es ist nicht immer leicht, einfach so mal abzuschalten und den Kopf frei von Gedanken zu haben. Viel zu oft sind wir geprägt von Stress, von Ängsten und Enttäuschungen, die uns nicht zur Ruhe kommen lassen oder uns tief verletzen. Ich glaube, es ist auch ganz natürlich, dass man über Zweifel, Sorgen und Ängste nicht so wirklich reden mag. Es liegt wohl in unserer Natur, dass man keine Schwächen zeigen darf – was eigentlich wirklich schade und auch ziemlich doof ist. Nichts hilft so viel, wie über seine Gefühle und Gedanken zu reden – und ab und zu mal eine Auszeit zu nehmen. Ich schwinge mich für solche Auszeiten oft in einen Oldtimer, singe ein Liedchen und halte irgendwo an, um ein bisschen spazieren zu gehen. Das war aber dieses Mal nicht ganz der Plan. Ich hatte mir eine ganz bestimmte Strecke herausgesucht, die ich in diesem Jahr noch einmal fahren wollte.
Die Straßen waren fast wie leergefegt.
Nur fünf Autos hatten mich überholt, als ich an meinem ersten Zwischenstopp auf der Strecke ankam. Es war wirklich nicht viel los, an diesem Samstagmorgen. Der Regen wurde von Kilometer zu Kilometer stärker, der Nebel immer dichter. Mir wurde es etwas unwohl. Elsa besitzt noch eine 6 Volt-Anlage. Und auch wenn das Licht nicht so schlecht ist, wie man vermuten könnte, ist es nicht mit den LED-Leuchten moderner Autos zu vergleichen. Ich war wirklich angespannt und rechnete jede Sekunde damit, dass mir einer in den Kofferraum fährt, weil er Elsa einfach nicht gesehen hatte. Doch meine Angst war ganz unbegründet. Alle Autofahrer verhielten sich echt vorbildlich und keiner schimpfte über dieses alte Auto, das mit 80 über die Landstraße fuhr. Ich weiß sehr wohl, dass Elsa schneller fahren könnte – aber bei Tempo 80 läuft sie einfach am besten. Warum auch immer.
Doch am meisten freute ich mich über all die Spaziergänger, die an diesem Morgen schon unterwegs und wohl genauso auf der Suche nach Schönheit waren, wie ich auch. Unzählige Daumen nach oben, lachende Gesichter (Nicht nur von Trettreckerfahrern) und winkende Hände hatten mir die Fahrt doch ordentlich versüßt. Ich summte fröhlich „Feeling Good“ von Nina Simone, als ich in den Wald einbog und Elsa über die Schotterstraße lenkte. Dicke Tropfen platschten auf die Scheibe und das Dach meiner alten Schwedin. Frische Waldluft strömte durch das leicht aufgestellte Dreieckfenster. Sie roch nach nassem Moos, nach Tannen und Waldboden. Auf einer Lichtung stellte ich den Motor ab und stieg aus. Ich hatte mich auf Sonnenschein eingestellt und keine Jacke eingepackt. Aber „You can’t always get, what you want“, wie die Rolling Stones mal sangen. Man kann nicht immer alles haben, was man sich gerne wünscht.
Erstens kommt es anders…
Wie ein großer Regenschirm hielten wie wenigen Äste über dieser Lichtung den Regen von Elsa und mir ab. Ab und zu kam ein großer Tropfen herunter, aber das störte mich nicht. Viel zu schön war das Schauspiel, das sich hier abspielte. Strahlend und glänzend in vielen bunten Farbtönen zeigte sich der Wald. Und da bei dem Wetter ansonsten niemand an diese entlegene Stelle in Dithmarschen fuhr, gab es eine kleine Privatvorstellung. Ich versuchte die Stimmung mit meiner Kamera einzufangen – doch das war einfach nicht möglich. Also ließ ich es bleiben und schoss nur ein paar Bilder von Elsa im Herbstlaub. Wie ein weiches Kissen gab das nasse Moos unter meinen Schuhen nach. Die Luft war frisch und klar – und bis auf das beruhigende Rauschen der Bäume hörte man nichts. Gar nichts. Wahrscheinlich etwas benebelt von dem Schauspiel bog ich etwas später auf einen falschen Weg ab.
Die Schlaglöcher brachten Elsa ordentlich ins Schaukeln. Ganz langsam ließ ich den alten Volvo durch die kleineren Schlaglöcher rollen und umfuhr die größeren. Ich bereute sofort, nicht besser aufgepasst zu haben und lauschte nur darauf, gleich irgendwo aufzusetzen. Für die Schönheit des Waldes hatte ich wirklich kein Auge mehr – und das Singen war mir auch vergangen. Doch Umdrehen war keine Option mehr. Zu matschig waren die Seitenstreifen – und festfahren wollte ich mich hier nicht. Hilfe hatte ich schließlich keine dabei. Manchmal muss man seinen Weg wohl einfach bestreiten, wenn er auch nicht leicht ist. Es dauerte gut eine Stunde, bis der Weg uns auf eine Teerstraße führte. Die Teerstraße, die ich sowieso noch fahren wollte. Stolz und glücklich klopfte ich Elsa aufs Armaturenbrett. Der über 60 Jahre alte Volvo hatte eine Strecke geschafft, an der die meisten SUVs wohl gescheitert wären. Ihr Motor brummte hörbar zufrieden im Leerlauf.
You know how I feel.
Zufrieden rollte ich über eine wunderbar glatte Teerstraße durch den immer noch bunten Wald. Hätte man mir an diesem Morgen gesagt, dass es die ganze Zeit regnen würde, wäre ich bestimmt nicht losgefahren. Aber manchmal ist es wohl auch ganz gut, nicht zu wissen, was einen so erwartet. Wäre ich nicht losgefahren, hätte ich auch diese farbenfrohe Schönheit der Natur nicht gesehen. Und hätte ich gewusst, was für ein holpriger Weg mich erwarten würde, wäre ich aus Angst um mein Auto nicht durchgefahren. Nun weiß ich aber, dass ich meiner alten Volvo-Dame mehr zumuten kann, als ich jemals gedacht hätte. Ein bisschen Mut und Blauäugigkeit schadet nie. Ich lehnte mich zurück und genoss den Rest des Weges.
Nach gut zwei Stunden kam ich am Ziel an: Das Burger Fährhaus am Nord-Ostsee-Kanal. Es war immer noch neblig und es regnete immer noch wie aus Kübeln. Ich stellte mich auf den kleinen Parkplatz mit Blick auf den Kanal. Ein kleines Segelschiff fuhr vorbei – der Kapitän stand mit gelber Öljacke am Ruder. Und obwohl auch er inzwischen pitschnass gewesen sein durfte, grinste er. Genauso wie ich. Zufrieden rutschte ich etwas tiefer in den Sitz, legte meinen rechten Arm auf den kopfstützenlosen Beifahrersitz und sang leise „Feeling Good“. Das Leben ist voller Enttäuschungen – deshalb sollte man die Zeit dazwischen umso mehr genießen. Auch, wenn es manchmal schwerfällt. Lachen und Singen helfen immer. Und alte Autos, natürlich.
Einfach mal lachen!
Warum ich mit gerade diese Strecke und das Burger Fährhaus herausgesucht habe? Hier hatte ich mit Elsa meine erste richtige Panne gehabt – auf der Super Verbleit-Rallye, vielleicht erinnert ihr euch. Erst mussten wir über die Startlinie geschoben werden, dann fuhren wir holpernd und mit Fehlzündungen über diese Strecke, bis ich Elsa nach fünf Minuten abstellte. Ich wollte es Elsa und mir einfach nochmal beweisen, dass wir es schaffen können. Noch mit den Startnummern auf den Türen und ganz ohne Probleme fuhr Elsa die Strecke hin – und sogar wieder zurück. Gut 120 Kilometer dauerte die letzte Tour für meine alte Volvo-Dame in diesem Jahr. Kurz bevor wir zu Hause waren, war sogar strahlender Sonnenschein, der Elsa wieder fast ganz trocknen ließ. Als ich sie nach einigen Vorbereitungen in die Garage stellte und mit alten Bettlaken abdeckte, streichelte ich ihr noch einmal über den Kotflügel und grinste. Eins weiß ich nämlich:
Alles wird gut.
„ Das Leben ist voller Enttäuschungen – deshalb sollte man die Zeit dazwischen umso mehr genießen.“
Das muss ich mir merken 🙂