Die Uhr schlägt neun…
Heute möchte ich euch mal etwas völlig anderes zeigen.
Ich schreibe mal etwas „Kreatives“. Mal etwas anderes, was vielleicht nicht so ganz leichte Kost ist.
Neun Mal. Neun Schläge hatte die Turmuhr von Tönning schon geschlagen. Er war sich ganz sicher, er hatte ja mitgezählt. Draußen war es schon dunkel. Er schaute nochmal zur Uhr, nur, um nochmal sicher zu gehen. Ja. Es war neun Uhr. Was hatte er schon zu verlieren? Egal, was er anfing. Es ging immer alles daneben.
Das fing schon früh an. Kurz nach seiner Geburt verstarben seine Eltern. Nicht mal seine Anwesenheit konnte seinen Vater vom Rasen abhalten. So wichtig war er ihnen wohl. Aufgewachsen ist er dann irgendwo, mitten in Eiderstedt bei seinen Großeltern. Freunde konnte er da nicht finden. Deswegen fiel es ihm wohl auch später in der Schule schwer, Anschluss zu finden. Eigentlich fand er ihn nie. Er war immer Einzelgänger. Von anderen gehänselt, verspottet und als eklig angesehen. Er hatte es nie verstanden. Er wusch sich jeden Morgen. Wenn er dann doch mal Freunde gefunden hatte, merkte er immer recht schnell, dass sie nicht auf einer Wellenlänge waren. Während sie sich über die heißeste Frau im Dorf oder die neuste Landmaschinentechnik unterhielten, hörte er ihnen nur zu und täuschte Interesse vor, um nicht alleine zu sein. Irgendwann gingen die Freundschaften dann auch zu Ende. Und er saß dann wieder alleine in seinem Zimmer in der kleinen, renovierungsbedürftigen Kate und hörte Musik. Nur in der Musik konnte er sich wieder finden. Seine Großmutter sang viel mit ihm, bevor er zur Schule ging. Sie hatte eine wunderbare Stimme und er hatte immer viel Spaß mit ihr zu singen. Sie dachten sich oft neue Texte zusammen aus. Sie sangen über alles, egal, was es war. Sei es über die Erdbeeren, die sie im Garten gepflückt hatten oder die Rosen, die unter seinem Schlafzimmerfenster blühten oder auch einfach nur über die Kühe auf der Weide. Das entwickelte sich zu einem Hobby. Andauernd schrieb er: Liedtexte, Gedichte oder Geschichten, die er dann seinen Großeltern vorlas oder vorsang. Irgendwann, seine Großeltern waren schon lange verstorben, fing er an sie zu veröffentlichen. Wirklich berühmt wurde er nicht, aber zumindest in seiner Region recht bekannt. Oft hatte er Anfragen von Cafés oder Restaurants, ob er nicht mal seine Geschichten vorlesen könne. Das war für ihn, einen eher introvertierten Menschen, gar nicht so einfach. Zuerst lehnte er es auch immer wieder ab, aber als die kleine, baufällige Kate, in der er wohnte, irgendwann unter Einsturzgefahr stand, musste er schließlich doch Geld verdienen.
Er schaute nochmal zur Uhr. Nun musste er aber los. Er wollte noch einmal die Plätze abfahren, die ihn an sie erinnerten. Er nahm seine Schlüssel, seine Papiere, ging noch einmal durch die Wohnung, streichelte noch einmal das Sofa, wo er sie das letzte Mal sitzen sah. Leise schloss er die Tür der Wohnung und ging dann im dunklem Treppenhaus nach unten. Durch die Glastür schimmerten schon die Straßenlampen. Er öffnete die Tür und ging durch die leeren Gassen Tönnings zum Markplatz. Tagsüber war hier immer viel los. Menschen freuten sich, gingen einkaufen, machten Fotos. Er war alleine und kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel für sein altes, klappriges Cabriolet.
„Einsturzgefahr“ stand auf dem gelben Schild an der Pforte zum Grundstück. „Betreten verboten.“ Die kleine Kate war eigentlich immer recht baufällig gewesen. Seine Großeltern waren nicht mehr kräftig genug in den letzten Jahren, um noch etwas am Haus zu machen. Und er hatte weder die Fähigkeit noch das Geld, die Kate zu renovieren. „Einsturzgefahr“ – hier konnte er nicht mehr leben. Da das Geld für die Miete seiner Ein-Zimmer-Wohnung kaum reichte, musste er trotz größten Lampenfiebers nun doch auftreten und seine Geschichten und Gedichte vorlesen. Und so kam es auch zu der Begegnung, die sein Leben verändern sollte. Vor seinem Auftritt in dem kleinen Restaurant am Hafen war er wieder total nervös, weshalb er sich hinter her in einem extra für ihn reserviertem Zimmer etwas ausruhen musste. Das Restaurant veranstaltete in ein paar Tagen im Sommer immer eine Art „Kulturabende“ mit Musik und Autoren, die Werke vorstellten. Eine recht bekannte Band war auch dabei. Sie spielten gerade, als er sich auf dem Bett liegend ausruhte. Er hatte sie schon oft im Radio gehört und auch schon im Fernsehen gesehen. Er mochte die Texte der Lieder. Irgendwie erinnerten sie ihn immer die Zeit mit seiner Großmutter, wenn sie zusammen auf der alten Couch sich neue Lieder ausdachten. Sie waren kein oberflächliches Zeug. Die Lieder der Band hatten Tiefe, die die Sängerin auch sehr gut herüber bringen konnte. Applaus. Die Band hörte auf zu spielen. Seine Liedtexte hatte er nie wirklich veröffentlicht. Ein paar hatte er als Gedichte angegeben und veröffentlicht. Das war es schon. Er mochte Musik und er mochte singen. Nur traute er sich nicht vor allen Leuten seine Stimme zu zeigen. Während er immer noch nachdenkend auf dem Sofa lag, klopfte es plötzlich an der Tür. Er war sehr verwundert. Er hatte niemanden auf den alten Dielen des Flurs laufen hören und normalerweise klopfte niemand bei ihm. Sofort stand er auf, knöpfe noch schnell sein Hemd zu und ging zur Tür, drückte die Türklinke herunter, zog daran und bekam dann fast einen Schock. Zwei wunderhübsche, lächelnde Augen schauten ihn an. Einee ebenso wunderhübsche Stimme fragte nur: „Darf ich reinkommen?“, worauf er nur mit einem Nicken antworten konnte. Es war die Sängerin der Band, die, noch leicht nach Schweiß riechend, gerade in „sein“ Zimmer ging. Was sie wohl wollte? Warum käme sie gerade zu ihm? Würde sie sich gleich mit einem knallrotem Kopf entschuldigen, weil sie sich im Zimmer geirrt hätte? Er schaute zu ihr, wie sie sich auf den Stuhl neben dem kleinen Schreibtisch setzte und ihn dann anlächelte. Er wusste nicht genau, wie er reagieren sollte. Hatte er in all den Jahren doch nie wirklich den Mut gehabt, mit Frauen zu sprechen. Er verehrte Frauen, oft auch in seinen Gedichten und Geschichten, auch in Liedtexten, die er dann aber für sich behielt. Er hatte aber nie den Mut, eine anzusprechen. Zu groß war die Angst sich zu blamieren. „Ich habe deine – ich darf doch „Du“ sagen, oder? – Geschichten gehört. Ich bin total begeistert“, sagte das engelsgleiche Geschöpf. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Das Kopfsteinpflaster rummelte unter den Reifen. Er ließ sich heute Zeit. Warum sollte er sich auch beeilen? Er wollte noch einmal zu dem Fleck fahren, wo sie damals ihren ersten Spaziergang machten, nachdem sie ihn in dem kleinen Zimmer im Restaurant besuchte, wo er sich ausruhen sollte. Sie verstanden sich beide gleich und wussten wohl, worauf es hinaus laufen sollte. Er stellte das Cabrio ab und ging zu Fuß den Hafen entlang. Hier war es. Er war recht verlegen und konnte immer nur auf ihre Fragen antworten. Sie wusste, was sie wollte und nahm ihn beim Spazierengehen sofort an die Hand. Er war erschrocken darüber, dass sie ihn gleich an die Hand nahm, genoss es dann aber umso mehr. Hier war es und hier wird es nie mehr sein. Die Lampen spiegelten sich im Wasser. Genauso wie damals, als sie an der Eider anhielten und einfach nur auf das Wasser schauten. Sie war die erste, die sang. Erst nach einigen Minuten traute er sich einzustimmen. Von da an war das Eis gebrochen. Alles passierte an diesen kleinen Ort. Er ging wieder zurück zu seinem Auto und machte sich auf zum nächsten Ort.
Drei Monaten nach ihrem ersten Treffen zog sie von Hamburg nach Tönning. Sie hatte sich in das kleine Städtchen verguckt und war total überrascht davon, wie viel Inspiration man hier aus der Landschaft ziehen konnte. Aber er wusste einfach, dass sie auch seine Nähe wollte. Sowas hatte er vorher noch nie wirklich gespürt. Eine Woche, nachdem sie ihre neue Wohnung bezogen hatte, lud sie ihn zum Abendessen ein. Natürlich hatten sie in der Zeit vom ersten Treffen bis zum Umzug oft telefoniert, was er sonst eigentlich nie getan hatte. Er bekam meistens eher Briefe, die ihn nach Vorträgen fragten. Anrufe ganz selten. In drei Monaten freute er sich aber über jedes Klingeln vom Telefon, weil sie meistens dran war. So klingelte es auch einen Abend eine Einladung zum Abendessen zu ihm. Er wusste nicht wirklich, wie er sich anziehen sollte. Ausgegangen war er noch nie, aber die Auswahl in seinem Kleiderschrank war eh begrenzt. Nervös war er beim Klingeln an ihrer Haustür. Die Nervösität war aber wie weggeblasen, als sie mit einem strahlendem Lächeln die Haustür öffnete und ihm zur Begrüßung gleich um den Hals fiel. Sowas war ihm noch nie passiert. Wie denn auch? Das war dann auch der Abend, wo sie sich das erste Mal zusammen auf ihr Sofa kuschelten. Ganz romantisch bei Kerzenlicht. Er traute sich gar nicht sich zu bewegen, ohne sie gleich hochzuschrecken. Trotz der Anspannung konnte er den Moment genießen. An diesem Abend verbrachten die beiden dann auch ihre erste gemeinsame Nacht. Er solle unbedingt bei ihr bleiben, meinte sie damals. Er wusste nicht, wie ihm geschah, bis er am nächsten Morgen mit dem Engel im Arm aufwachte. Er konnte nicht verstehen, warum diese, doch recht bekannte und sehr hübsche Sängerin, gerade ihn unter all den Millionen Männern ausgesucht hatte. Ihn, den Einzelgänger. Den Kauz. Der von anderen Menschen verspottete Nichtskönner.
Das Kopfsteinpflaster hörte auf zu rummeln und Teer kamen unter die Räder seines alten Cabriolets. Er war auf dem Weg zum Packhaus. Hier war es, wo sie ihn nach einem halben Jahr des Glücklichseins fragte, ob sie nicht zusammenziehen wollen. Über diesen Schritt freute er sich mehr als über alles andere. Er war verliebt, wie noch nie. Das merkte er auch in seinen Geschichten, die sich besser verkauften, als vorher. Durch das Zusammenziehen konnte er nun immer bei ihr sein. Außer sie war auf Tournee und musste Konzerte geben. Dann wartete er zwischen all ihren Sachen auf sie. Er ging ein paar Schritte an das Packhaus heran. Es war gerade Weihnachtsmarkt, als er gefragt wurde. Sie zog ihn in eine stille Ecke, wo sie nicht gleich Autogramme geben müsste und fragte ihn die Frage. Er konnte ihr Vertrauen in ihren Augen sehen und er wusste – er hatte etwas hinbekommen. Zum ersten Mal in seinem Leben. Heute war kein Weihnachtsmarkt. Nicht einmal Winter. Er stieg wieder in das Cabriolet ein, startete es und fuhr nun zu seinem finalen Ziel.
Sie lebten genau ein Jahr und vier Monate glücklich zusammen. Als er eines Tages vom Einkaufen zurückkam und er in freudiger Erwartung auf seine Liebste die Tür aufschließen wollte, überkam ihn auf einmal ein ungutes Gefühl, dass sich verstärkte, als er die Tür offen vorfand. Die ganze Wohnung war verwüstet und von ihr war keine Spur. Nur einen Brief fand er, der irgendwas von „Entführung“ sagte. Er musste sich setzen. Ihm war schlecht. „Keine Polizei.“ Er wusste nicht, was er tun sollte. Die letzten Monate über kam es vereinzelt immer mal wieder zu Anrufen, wo keiner am anderen Ende der Leitung war. Sie schoben es auf Telefonstreiche. Es waren keine, er wusste es von Anfang, wollte es aber nicht wahrhaben. Nun war sie nicht mehr da. Es war vielleicht ein Fehler, die Polizei einzuschalten. Dann kam auch die Presse. Das war wohl der Fehler. Es war nicht mehr weit bis zum Katinger Watt. Das klapprige Cabrio schnurrte vor sich hin und fühlte sich anscheinend wohler, als er selbst. Ein Brief lag auf dem Beifahrersitz. Aufgeregt war er nicht. Warum auch? Er schaute sich die Landschaft an. Irgendwie war es doch recht nebelig. Und einsam. Kein anderes Auto kam ihm entgegen. Aber das war wohl auch Sinn der Sache, warum er hierher fahren sollte. Gerne hätte er Musik gehört, aber das Radio in dem klapperndem Cabriolet war schon lange kaputt. Er wollte es immer reparieren lassen, aber irgendwie schien es sich doch nicht mehr zu lohnen.
Das Medienaufgebot war riesengroß. Er musste viele Interviews halten, was er gar nicht angenehm fand. Er wollte nicht sich in den Mittelpunkt rücken – wie es in der Klatschpresse leider passierte, sondern einfach nur seinen Engel wiederhaben. Natürlich wurde er auch verdächtig der Entführer zu sein. Teilweise wurde sogar schon von Mord gesprochen. Er ließ es aber alles an sich abprallen. Die Menschen kannten ihn alle nicht. Nur sagten sie diesmal nicht, dass er eklig wäre, obwohl er sich tagelang nicht wusch. Andauernd tauchten neue Fotos von ihm in der Presse auf und überall tuschelten Leute, wenn sie ihn sahen. Wie es ihm ging, fragte niemand. Und wenn, dann war es nur eine Frage, die nicht ernst gemeint war. Er bereute schnell, dass er die Polizei mit eingeschaltet hatte. Andauernd bekam er auch neue Briefe zugeschickt, die er aber vor der Polizei geheimhielt. Sie wurde nie erwähnt. Immer nur „Lösegeld“. Er plante eine Bank zu überfallen, um sie zurückzubekommen. Aber dazu war er nicht in der Lage. Irgendwann kam dann der Brief, der den Ort der Lösegeldübergabe beinhaltete. Er glaubte noch einmal an das Gute und gab ihn zur Polizei, wie es sich gehörte. Die Aktion ging sehr schief. Er positionierte den Koffer mit Lösegeld an den vereinbarten Orten, während rundherum überall getarnte Polizisten lauerten. Sie sollten nicht schießen, sondern nur beobachten. Als er sich vom Koffer entfernten, kam ein Mann zum Koffer gerannt und nahm ihn in die Hand. Ein Schuss, ein Fall. Stille. Auch die Notärzte konnten dem Kofferempfänger nicht mehr helfen. Die Polizei wusste, dass das nicht gut war. Er wusste auch, dass er nun in Gefahr war. Ihm war es egal.
Hier war sein Ziel. Er setzte den Blinker und fuhr langsam auf den mit Schotter bedeckten Parkplatz. Er stellte den Motor ab und schaute nochmal auf den Brief. Er wüsste zu viel und das müsste er bezahlen. Es war kein Geld, das wusste er. Er stieg aus und ging mit langsamen Schritten im Mondlicht durch das nasse Gras. Das kalte Wasser einer großen Pfütze lief oben in seine Schuhe rein, was ihm aber nichts mehr ausmachte. Er sollte mit Blick auf das Wasser vor einer Bank stehen und dann den Brief laut vorlesen. Sein Engel käme dann frei. Er glaubte nicht wirklich daran, aber er wollte alles versuchen, um sie wieder in Freiheit zu wissen. Er stellte sich an den beschriebenen Punkt. Vor ihm das mit einer schweren, weißen Nebelschicht bedeckte Wasser. Tausende von Mücken surrten um seine Ohren herum. Der Mond schien durch den meist nur bedeckten Himmel. Er hörte Rascheln und Schritte hinter sich. Er drehte sich nicht um. Er hatte keine Angst. Ändern würde es auch nichts mehr. Er nahm den Brief hervor und begann zu lesen. „Ich weiß zu viel. Ich habe mich nicht an die Regeln gehalten und bezahle nun gerne den Preis dafür.“
Den Schuss konnte er nur noch hören, nicht mehr fühlen. Erst ein Fall und dann Stille.
Dies war der erste, richtige Versuch einer fiktiven Geschichte, die ich hier veröffentlicht habe. Wie hat sie euch gefallen, wollt ihr öfter so etwas lesen? Auf eure Meinungen bin ich sehr, sehr gespannt. Vielen Dank schon mal für euer Feedback.
Coole Idee! A Schriftsteller was born 🙂
Gruß
Andreas
Hey Andreas,
danke für das Lob :D. Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt. Ein Schriftsteller wird aber wohl eher nicht aus mir werden ;-).
Schöne Grüße
Lars