Für dich, Oma.
Drei Menschen, ein großer Kia, ein Tag Zeit, eine Mission. Die Vergangenheit erkunden.1200 Kilometer auf den Spuren meiner Großeltern. Der erste Teil einer Abenteuerreise.
Ich stehe vor der Felssteinmauer und schaue auf die alten Bäume des alten Obstgartens, von dem du so oft erzähltest, wenn du mich auf der Schaukel unter dem Apfelbaum angeschubst hast und wir nicht gerade „Hänschen Klein“ gesungen haben. Beim „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Spielen erzählest du mir, dass dein Vater böse wurde, wenn du den Apfel falsch abgepflückt hast. Am nächsten Tag hast du mir dann gezeigt, wie es richtig geht. Ich kam kaum an die Äpfel da oben an dem Baum heran. Ich fasse die massive Steinmauer vor mir an. Sie ist repariert worden. Die Bewohner kümmern sich gut um das Elternhaus und den Garten meiner Oma. Du freust dich bestimmt darüber, dass deine eigentliche Heimat noch da ist. Es ist alles lange her. Sehr lange her. Für mich gehörst du immer noch in die Wohnung, in der ich heute wohne.
Es ist so gegen halb zwölf, als wir über die Oder und somit über die Grenze nach Polen fahren. Wir, das sind Günter, ein Hobby-Ahnenforscher, der sehr viel über die Gegend, unsere Familie und mehr über Geschichte im Allgemeinen weiß als so mancher Historiker, meine Mutter, ein großer, neuer Kia Sorento und ein kleiner, komischer Kerl, der sich hier „Watt’n Schrauber“ nennt – also ich. Vor über 72 Jahren bist du diesen Weg auch gefahren, über die Oder. Nur in die andere Richtung. Ein Aufbruch ins Ungewisse. Für mich ist es nun der Anfang in die Reise der Vergangenheit eines Teils meiner Familie. Ich möchte noch einmal sehen, wo meine Familie mütterlicherseits herkam, einen Hauch davon mitbekommen, wie sie dort früher gelebt haben und was heute überhaupt noch davon da ist.
Gryfino liegt vor uns. Es ist wenig los für die Mittagszeit, gerade für einem Samstag. Ich verreise nicht oft, umso spannender finde ich diesen Tagesritt von gut 1200 Kilometern einmal nach „Westpommern“, genauergesagt in die Region rund um Gryfino, und zurück. Ein Teil meiner Familie lebte hier, bis sie 1945 ihr Zuhause verlassen mussten und nach Dithmarschen gelangten. Von Gryfino erzähltest du oft. Greifenhagen. Hier bist du geboren. Ich zirkel den Sorento durch die Baustellen und engen Straßen Gryfinos. Vor sechs Jahren war ich schon mal hier, damals beschlossen wir an Omas 90. Geburtstag ihre Heimat aufzusuchen. Wie schnell sich alles ändert. Die groben Straßenzüge sind geblieben, aber es wird an jeder Ecke die Straße erneuert und neue Häuser werden gebaut. Gryfino ist im Aufschwung. Es soll eine der reichsten Regionen Polens sein – man merkt es.
Wir lassen Gryfino schnell hinter uns.
Wir entscheiden uns für eine Mittagspause auf einem Berg, kurz vor dem kleinen Dorf, in dem du aufgewachsen bist. Wir wollen es ausnutzen, schließlich ist das Land hier nicht so flach wie bei uns an der Nordseeküste. Der Sorento darf das erste Mal seine Offroadeigenschaften herzeigen und kraxelt mit uns einen Schotter- und Sandweg hinauf. Wir halten an einer Kreuzung. Frei nach Matthias Claudius „Wenn jemand eine Reise tut, dann sollte er sich stärken“. Du hast immer passende Sprichwörter parat gehabt. Du sagtest mal, du hättest das in der Schule gelernt. Ganz in der Nähe wurde vor gut 70 Jahren Günters Oma von einem Blitz erschlagen, bei der Feldarbeit. Wir blicken auf den Burgsee, von dem du oft erzähltest, dass dort keine Burg mehr war, und an dem Cousinen meines Opas gelebt haben. Das Brot tut gut, nach der ersten Etappe dieser langen Fahrt. So ein halbes Ei stillt den Hunger auch gut. Unsere Hühner hören immer noch auf den gleichen Ruf wie damals von dir.
Gestärkt fahren wir runter in das Dorf. Ich finde den Bauernhof auf Anhieb wieder. Du erzähltest mir damals oft von Geschichten vom Leben als Bauerstochter. Wir biegen hinter dem Haus ein, fahren am Stall und dem Obstgarten, immer an der alten Felssteinmauer entlang und halten am Friedhof. Ein Mercedes steht dort, mit Kölner Kennzeichen. Wir steigen aus. Ein junger Mann in Hemd und Jeans sitzt vor den alten, deutschen Grabsteinen, die von den Polen dort feinsäuberlich aufgestellt und vor gar nicht allzu langer Zeit mit einem Gesteck bedacht wurden. Der Respekt vor den Toten ist gegeben. Ich finde es klasse. Der Mann ist mit einem Scheuerschwamm und Reinigungsmitteln bewaffnet. Er spricht uns an, als wir deutsch redend an den Steinen vorbeilaufen. Er stellt sich als Johannes vor. Er würde seinen Urlaub nutzen und wäre auf der Suche nach den Spuren seiner Vorfahren. Günter kann seine Familie sofort einordnen. Anscheinend sind wir auch irgendwie verwandt, ich bekomme den Zusammenhang nicht ganz mit. Es steht auch noch der Grabstein der alten Dame dort, der du als Kind immer Essen bringen musstest.
Wir schlendern über den Friedhof. In einer der hintersten Ecke finde ich noch einen eingewachsenen und wohl vom Frost zerbrochenen Grabstein. Ich klappere mit den Steinen, als ich versuche sie zusammenzulegen. Der Nachname kam mir bekannt vor. Dein alter Koffer, den du mit auf der Flucht hattest, trug diesen Namen in sich geschrieben. Ich denke an das traurige Schicksal, dass du mir über den Besitzer des Koffer erzählt hast, als ich nachfragte, wer das in dem Koffer war. Die Anderen kommen auch. Wir finden noch weitere Stücke und eine alte Steinsäule, die vor gut 100 Jahren wohl auch als Grabstein genutzt wurde. Wir finden keinen Namen mehr darauf, zumindest nicht komplett. Der Rest des Friedhofs ist gepflegt. Es werden dort immer noch Leute beerdigt. Es sind heute nicht allzuviele Leute mit der Grabpflege beschäftigt. Wahrscheinlich stören sich die Leute auch an den vielen Mücken dort. Es juckt inzwischen überall. Ich werde vernascht. Und davon ganz kribbelig. Auf dem Weg zurück zum Eingang falle ich fast in ein zugewachsenes Loch. Das war wohl mal ein Grab. Ich fühle mich noch etwas zu jung und zu fit dafür.
Wir wollen uns noch ein wenig das Dorf anschauen. Du erzähltest mir immer, wie euer Obstgarten direkt an den Friedhof angrenzte. Die Steinmauer habe ich mir lange genug angesehen, wir laufen weiter. Es wurden neue Obstbäume gepflanzt, das Gras ist gemäht. Ein paar Hühner laufen herum, ein roter Volkswagen steht auf dem Hof. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du hier einmal gewohnt hast. Ich schaue auf die Haustür. Vor über fünfundsiebzig Jahren machtest du sie das letzte Mal zu, mit der Hoffnung wieder zurückzukehren. Ich kann es nicht nachvollziehen, wie es sich angefühlt haben muss, sein Hab und Gut auf ein Minimum zusammenzufassen, die Tiere und das Haus alleine zurückzulassen und zu fliehen, um zumindest das Leben zu retten. Du hattest damals noch die Kühe gemolken und die Milch den Schweinen hingeschüttet. Es war der dritte März 1945. Du warst 22 Jahre alt. Es hat geschneit und gefroren. Ihr wurdet kurz nach Greifenhagen schon von Tieffliegern angegriffen. Das Dach des Hauses ist neu, die Fenster auch. Der Hof macht einen gepflegten Eindruck – noch mehr als letztes Mal schon. Das Fenster, hinter dem du dein Zimmer hattest, steht offen. Zurückgekehrt ist Oma erst 1973, in einem Urlaub. Sie hatte kein Heimweh und war mit ihrer neuen Heimat in Dithmarschen auch sehr zufrieden. Sie wurden damals von den neuen Besitzern des Hauses zum Kaffee eingeladen. Du bekamst damals sogar eine Postkarte, auf polnisch. Ich habe sie noch.
Auch in dem kleinen Dorf, das du so oft noch ‚Zuhause‘ nanntest, obwohl du schon Dithmarschen als deine eigentliche Heimat gesehen hast, wird fleißig gebaut. Breite Gehwege, die Straßen werden erneuert, Kreisverkehre werden gebaut. Die alte Straße ist abgefräst, die Autofahrer fahren trotzdem recht flott. Polen hat ja komischerweise keinen so guten Ruf. Viele Leute verbinden das Land immer noch mit geklauten Autos, Alkoholismus, verfallenen Häusern und kleinen Landstellen mit Selbstversorgung. Ich wurde vor diesem Tagestrip allen ernstes gefragt, ob ich denn dort so auf den Straßen herumlaufen könnte oder ob mir die Polen etwas tun würden – Prügel oder so. Vorurteile hat ja anscheinend echt jeder im Kopf. Die finde ich blöd, ich mache mir lieber selbst ein Bild. Wieso sollte mir jemand dort etwas tun?! Eine Frage auf die Antwort bekam ich übrigens nicht. Aber es gibt ja auch Leute, die die AfD wählen…
Johannes begleitet uns. Er scheint immer noch sehr erstaunt darüber zu sein, zufällig auf dem Friedhof des Heimatdorfes seiner Oma einen Experten wie Günter getroffen zu haben – der seine Oma zudem noch kannte. Günter zeigt uns die Schule, das Pastorrat (Ich erinnere mich daran, wie du sagtest, dass der Pastor in das KZ kam), die Kirche und alle Häuser, deren ehemalige Besitzer mir sogar noch etwas sagen. Jeden Sonntag hattest du damals fast Besuch. Manchmal bekam ich Schokolade von einigen mitgebracht. Ich habe immer bei euch gesessen und zugehört. Auf deiner Beerdigung waren mehr Menschen, als wir jemals gedacht hätten. Überall wird geschweißt, gesägt, gehämmert, gemalt. Aus weiter Ferne riechen wir einen Teerkocher. „Dzien Dobry!“, ein älterer Herr auf einem Fahrrad grüßt uns freundlich und lacht dabei. Alle sind fleißig und sorgen für die Verschönerung des Dorfes. Ich nehme mir vor eine Portion Motivation mitzunehmen. Johannes und ich kommen ins Gespräch. Die Zufälle reißen nicht ab. Wir haben das Gleiche studiert. Gut, er ist fertig und arbeitet, ich bin noch dabei. Wir reden über Elsa, andere Oldtimer und das Fahren in Polen.
Das Elternhaus meines Opas steht nicht mehr. Du musstest ohne ihn los. Du hattest dich ja schon in den schneidigen Hobby-Dressurreiter verliebt und dir jeden Tag Sorgen gemacht. Das alte Haus war schon beim ersten Besuch 1973 wohl baufällig und wurde irgendwann gegen einen Neubau ersetzt, der inzwischen auch schon nicht mehr neu ist. Ein Volvo Kombi rast mit einem Affenzahn an uns vorbei, als wir die „Hauptstraße“ entlang laufen. Wir werden durchgehend gegrüßt und angelächelt. Ich habe noch meine Probleme mit der Aussprache von „Dzien Dobry“ und bekomme es nicht einmal geradeaus herausgesagt. Die Stallungen stehen noch, in Fachwerk gehalten. Er konnte wohl gut Geschichten erzählen, was mir bisher jeder, der ihn kannte, bestätigt hat. Nach dem Krieg fand er dich wieder und konnte sie dir weitererzählen. Ich habe meinen Opa nie kennengelernt, deshalb habe ich wohl nicht so die Verbindung zu ihm ich es zu Oma habe. Das alte Haus steht nicht mehr. Eine Frau grüßt uns vom Balkon des Hauses, das nun an der Stelle steht, sie streicht das Geländer. Alle sind produktiv, dass sollten die Leute mit ihren Vorurteilen einmal sehen.
Wir erreichen den Friedhof wieder. Johannes verabschiedet sich und fährt mit seinem Mercedes wieder in Richtung Stettin. Wir nehmen nach einem Schluck Wasser wieder Platz in dem koreanischen SUV. Ich drehe am Zündschlüssel, der Diesel startet kaum hörbar. Ich schaue noch einmal auf den Obstgarten und den Stall. Du gehörtest für mich immer nach Dithmarschen, auch, als du nachher im Rollstuhl sitzend im Heim gewohnt hast. Ich stelle mir vor wie du als kleines Mädchen lachend durch das Dorf und den Garten gerannt bist. Ich lege den Rückwärtsgang ein und fahre in einen kleinen Weg. Ich schau noch einmal auf den Hof.
Ich freue mich kurz darüber, dir heute Abend erzählen zu können, was wir alles erlebt haben. Doch das geht seit über einem Jahr nicht mehr. Ich muss kurz schlucken. Ich muss wieder daran denken, warum wir ausgerechnet diesen Tag gewählt haben. Du hättest heute Geburtstag.
Alles Gute zum Geburtstag, Oma.
Ich lasse mir nichts anmerken und stelle den Automatik-Wählhebel auf „D“ und fahre in Richtung Ortsausgang. Wir wollen noch das Elternhaus meines Uropas wiederfinden. Es soll irgendwo ganz versteckt liegen. Am Ende der Welt, mitten in einem Wald.
Da wussten wir noch nicht, was für ein Offroadabenteuer das werden wird…
Eine sehr einfühlsam erzählte Zeitreise, mit vielen Emotionen und ganz viel Herz! Es ist immer wieder eine Freude deine Geschichten zu lesen.
Liebe Grüße Micky
Hey Micky,
vielen lieben Dank für den netten Kommentar! Es hat zwar ausnahmsweise nicht so viel mit Autos zu tun, aber das Geburtstagsgeschenk wollte ich Oma gerne machen.
Schöne Grüße
Lars
Chapeau, wie Du schreibst, dass Du nach Pommern gefahren bist und Deine Erlebnisse mit uns teilst. Danke!
Unglaublich, was das damals für eine Vertreibung war.
Etwas muss ich hinzufügen, da Du das erste Mal politisch wurdest in Deinem Blog. Ich würde vermutlich AfD wählen, wenn ich ein Deutscher wäre. Wer mit Polen nicht klar kommt ist Eure Regierung. Weil die bösen Polen nicht die genehmen Parteien wählten. Und weil sie das mit den Migranten etwas anders sehen. Ich war öfters in diesem schönen Land, weil mir Land und Leute (und die Küche) sehr zusagen. Dazu interessiert mich die deutsche Geschichte, auch wenn man das fast nicht sagen darf bei Euch. Verrücktes Land 🙂
Hallo Marc,
freut mich sehr, dass dir mein Artikel gefallen hat.
Du hast recht. Ich äußere mich nie politisch. Aber dieses Mal musste es sein. Vorurteile; Hass und Hetze bestimmen inzwischen unseren Alltag. Es gibt linke, die so links sind, dass sie rechts wieder herauskommen. Andersherum ist es genauso. Nicht unsere Regierung hat ein Problem mit Polen, sondern die Menschen in ganz Europa haben ein Problem mit sich selbst. Es wird weder diskutiert noch nachgedacht. Andere Meinugen sind so angesagt wie Herpes.
Viele Parteien (die AfD ist nur ein Beispiel) stellen sich gegen alles und sind überhaupt nicht kompromissbereit – liefern aber auch gleichzeitig keinen besseren Vorschlag oder eine Lösung. Am besten fand ich noch beim Brexit wie viele Politiker, die für den Austritt beworben haben, sich nach der Abstimmung in den „Ruhestand“ zurückzogen, weil sie keine Lösung für die Zeit „danach“ parat hatten.
Kommunikation besteht nur noch aus Beschimpfungen, Hass und Hetze. Es ist zum Kotzen. Dass du als Schweizer eine andere Sicht von „draußen“ hast, ist verständlich.
Und man darf über deutsche Geschichte erzählen. Stell dir vor – es wird sogar in der Schule unterrichtet ;-).
Schöne Grüße
Lars
Du hast recht, es ist nicht zielführend nur zu kritisieren. Allerdings bin ich beim (neutralen, da eh Ausländer) Studium der AfD Positionen der Meinung, dass sie Lösungen anbieten. Ob man diese Lösungen gut findet, steht natürlich auf einem anderen Papier. 🙂
Deutsche Geschichte: In unseren Atlanten stand bis in die 90er Jahre bei Schlesien, Pommern und Ostpreussen „unter Polnischer Verwaltung“. 🙂 Eigentlich ist das bis heute so, genauso bei Südtirol. DAS meine ich, darf bei Euch besser nicht erwähnt werden. (das damit viele Vertriebenenschicksale zusammenhängen, müsste eigentlich viel mehr zu reden geben)
Ich als Schweizer ohne jegliche Gebietsansprüche sage das einfach, dass es mir auffällt. 🙂
PS: danke für Deine offene Antwort!